KN: Die Suche nach dem Anführer
Kiel. Wo sind all die Leader hin? Wo sind sie geblieben? In der Teamhierarchie beim Handball-Rekordmeister THW Kiel ist ein Führungsvakuum entstanden. Leistungskrise, mentale Krise, Ergebniskrise. Kapitän Domagoj Duvnjak, Welthandballer von 2013, fehle, so THW-Coach Alfred Gislason, "an allen Ecken und Enden". Das 27:26 in der Champions League gegen Aalborg war ein Hoffnungsschimmer. Nicht viel mehr. Am Sonntag steht das Duell beim deutschen Meister Rhein-Neckar Löwen auf dem Programm, und in der Zebraherde weht ein neuer, ein energischer Wind. Die Partie gegen die Dänen am Mittwoch gab ersten Aufschluss.
Wer soll das Vakuum bei den Zebras füllen?
Wo Duvnjak fehlt, und wo René Toft Hansen nach langer Verletzung noch immer Pausen braucht, trat ein anderer ins Licht: Christian Dissinger. Der 25-Jährige ist nicht der Typ Leitwolf, aber er kann ein Spiel an sich reißen. Gegen Aalborg übernahm der Halblinke Verantwortung, ließ sich von Fehlwürfen und Zeitstrafen nicht ins Bockshorn jagen und glänzte vor allem defensiv im Innenblock neben Patrick Wiencek. "'Disse' ( Dissingers Spitzname, d. Red.) ist schwer im Kommen. Er ist schnell auf den Beinen, ist eine Maschine. Manchmal will er zu viel", sagte Gislason, und Dissinger selbst zeigte sich nach dem Sieg sichtlich erleichtert. "Man hat gemerkt, dass in den letzten Wochen viel passiert ist. Das war nicht schön, nicht wahnsinnig überzeugend. Aber wir haben uns reingekämpft. Das war der Schlüssel." Der Europameister hat die Diskussion über den mentalen Zustand seiner Mannschaft verfolgt, reagierte am Mittwoch gelassen auf die Frage nach dem Konsultieren eines Sportpsychologen: "Ich arbeite schon jetzt mit jemandem aus meiner Heimat zusammen, der mich im mentalen Bereich unterstützt. Wir telefonieren regelmäßig. Das muss jeder selbst entscheiden."
Ist Dissinger einer für die Rolle des Leaders? Jedenfalls ist er keiner, der sich wegduckt: "Ob man will oder nicht - die Rollenverteilung in der Mannschaft entsteht einfach. Momentan haben wir da ein Problem, dieser Part ist nicht zu 100 Prozent ausgefüllt. Aber da sind alle in der Pflicht, sich gegenseitig zu führen. Ich gebe mein Bestes für den Erfolg und versuche, der Mannschaft zu helfen." Abwehrchef Wiencek ist auch einer, der das Gespür für das Publikum hat, Impulse freisetzen kann, ist auf der Position als Kreisläufer jedoch in Sachen Teamführung limitiert, sucht derzeit selbst die nötige Gelassenheit vor dem Tor. Oder Steffen Weinhold? Der 31-jährige Linkshänder spielte bei der Europameisterschaft 2016 als Interimskapitän einen überragenden Part. Weinhold hat das Alter, die natürliche Autorität, die (Welt-)Klasse. Doch auch er ist nach sensationellem Saisonstart in der Misere abgetaucht, spielte zuletzt mit Licht und Schatten. "Die Rolle des Führungsspielers muss aus jedem selbst kommen. Ich fühle mich gut, wir haben viel miteinander geredet, und ich denke, das Wichtigste ist, dass wir auf dem Platz eine Einheit sind. Ob ich einen Mentaltrainer nutzen werde, weiß ich noch nicht. Aber es ist gut, wenn es einen solchen Anlaufpunkt gibt."
Auch Marko Vujin zeigte am Mittwoch trotz partieller Verunsicherung ansteigende Form, erzielte vier Tore und kehrte nach dem Spiel sein Innerstes nach außen: "Ich hoffe, dass wir diese schwierige Situation jetzt hinter uns lassen und eine neue Serie starten. Jedes nächste Spiel ist jetzt das Wichtigste für unser Leben. Ich habe schon so manchen schweren September erlebt, und am Ende haben wir dann oft trotzdem Titel gewonnen und manchmal nicht nur einen. Ich bin weiterhin ein großer Optimist für diese Saison." Alfred Gislason sah einen "großen Schritt in die richtige Richtung" und weiß, worauf es jetzt ankommt: "Wir können die Kurve kriegen, wenn die Jungs locker werden." Lockerheit, das fehle besonders den Youngsters Nikola Bilyk oder Lukas Nilsson. "Bilyk hat mit erst 19 eine überragende Saison gespielt und trägt jetzt die ganze Last auf seinen Schultern. Die Jungen sind noch kein Lövgren oder Karabatic, das müssen auch die Fans verstehen", so Gislason. Es dürfe nicht bei jedem Wurf im Kopf um "Tor oder Weltuntergang" gehen. "Es ist immer noch nur Sport." Nach der Niederlage in Wetzlar hatten Routiniers wie Christian Zeitz die Meisterschaft mit sechs Minuspunkten bereits abgeschrieben. Gislason will nicht mit einstimmen: "Es ist erst September, und ich habe keine Lust, jetzt über Anfang Juni und die Meisterschaft zu philosophieren."
(Von Tamo Schwarz, aus den Kieler Nachrichten vom 29.09.2017, Foto: Nick Jürgensen/Sascha Klahn)