
Filip Jicha: "Unsere Leistung in der Hinrunde war alles andere als selbstverständlich"
Intensiv waren die Wochen im Dezember, intensiv werden die Wochen nach der Handball-Weltmeisterschaft: Im Februar startet der THW Kiel, der das Jahr 2024 mit zehn Siegen in Folge beendete, wieder durch. In der DAIKIN Handball-Bundesliga und in der EHF European League, in der THW Kiel auf die Topclubs aus Porto und Melsungen trifft (Tickets), warten acht Spiele in 24 Tagen auf die Zebras. Vor dem Neustart zieht Trainer Filip Jicha, der in sein insgesamt 15. Jahr bei den Zebras geht, eine Bilanz der herausfordernden Hinrunde, berichtet über die Entwicklung der jungen Kieler Mannschaft und über die Verletztensituation.
"Der THW Kiel hinterlässt bei jedem Großereignis Spuren"
ZEBRA: Filip, du warst zuletzt oft in Herning bei den Spielen der Handball-WM, nächste Woche geht’s nach Zagreb und Oslo. Warum sind Dir die Besuche so wichtig?
Der THW Kiel hinterlässt angesichts der vielen Nationalspieler, die wir auch für diese WM abstellen, Spuren bei jedem Großereignis. Für Viktor und mich ist es wichtig, unseren Verein vor Ort zu repräsentieren. Dabei geht es nicht nur darum, Spieler, die auf unserer Scoutingliste stehen, live und abseits der Kamera zu sehen und so mehr über ihren Charakter zu erfahren, sondern viele Gespräche zu führen. Bei der WM trifft sich die Handballwelt, und da will und muss natürlich auch der THW Kiel dabei sein.
Zu Hause trainiert eine kleine Schar aus Rekonvaleszenten, jungen Spielern und Patrick Wiencek. Wie löst Ihr das?
'Sprengi' (Co-Trainer Christian Sprenger, d. Red.) und unser Athletik-Trainer Hinrich Brockmann leiten das Training, das von Lauf- und Krafteinheiten sowie den Reha-Übungen der verletzten Spieler geprägt ist. Für handballerische Elemente trainieren wir gemeinsam mit unserer U23 und dem Kooperationspartner TSV Altenholz.
"Für uns ist ein Ausfall von Domagoj Duvnjak fatal"
Du hast die Verletzten angesprochen, wie sieht es bei ihnen aus?
Wir wissen nicht, ob Hendrik Pekeler zum Rückrundenstart mit dem Kracher gegen Magdeburg wird spielen können. Dafür brauchen wir das grüne Licht der Ärzte. Bei Harald Reinkind sieht es hingegen ganz gut aus, er ist in der Endphase seiner Reha-Zeit. Bei ihm steigern wird jetzt die Handballeinheiten mit unserem einzigen gesunden Profi Patrick Wiencek. Mal sehen, wie Harald darauf reagiert. Ich hoffe, dass er uns bald wieder helfen kann. Für Niko wird es sehr eng, Elias hatte drei Wochen Nationalmannschafts-Lehrgang. Den hat er gut weggesteckt, aber jetzt musst er wieder bei uns ins Programm. Insgesamt ist die personelle Situation aber schlechter als im Dezember, auch weil wir nicht wissen, wann es mit Dule weitergeht.
Unser Kapitän Domagoj Duvnjak hat sich im zweiten Spiel der WM verletzt…
Ja, und das tut mir furchtbar leid für ihn, weil es sein letztes großes Turnier mit der kroatischen Nationalmannschaft ist und ich weiß, wie wichtig die Heim-WM für ihn ist. Das ist tragisch. Für uns ist ein Ausfall von Dule fatal. Er war in der Hinrunde die Konstante, die uns getragen hat. Seinen Ausfall können wir nicht kompensieren.
"Der Start war schwierig"
Du hast die Hinrunde angesprochen, wie fällt - mit etwas Abstand - dein Fazit aus?
Wir haben 26 Partien gespielt und davon 22 gewonnen. Der Beginn war schwierig, weil wir direkt mit Verletzungssorgen gestartet sind und superschwere Gegner zum Auftakt hatten. Es war uns klar, dass wir keinen leichten Start haben werden. Umso schöner war daher der Sieg in Magdeburg, der uns gezeigt hat, dass wir auch mit unserer jungen Mannschaft in der Lage sind, eine Weltklasse-Leistung abzurufen. Die Fans sehen Niederlagen wie gegen Flensburg natürlich sehr emotional, und auch wir haben uns danach wahnsinnig geärgert. Aber mein Job ist es, die Dinge nüchterner zu betrachten. Und da habe ich die Mannschaft an unsere internen Absprachen erinnert, bei denen wir vor der Saison festgelegt haben, wie und woran wir arbeiten und in welche Richtung wir uns entwickeln wollen. Vieles von dem, was wir besser machen wollten, haben wir geschafft.
"Die kommenden Monate werden nicht einfacher"
Zum Beispiel?
Wir haben insgesamt einen Schritt nach vorn gemacht. In der taktischen Umsetzung waren wir viel disziplinierter, haben Spaß daran gefunden, Angriffe durchzuspielen. Dadurch hatten wir viel mehr Sicherheit in unserem Angriff. Und wir haben auch neues ausprobiert, woran wir Spaß hatten. Selbst das Unterzahlspiel zu fünft, also quasi die Rückkehr zu einer alten Taktik, hat meinen Spielern Spaß gemacht. Denn wenn du dann triffst, pusht dich das und den Gegner zieht es ein wenig runter. Das waren kleine taktische Dinge, die wir für uns nutzen konnten. Aber wir brauchen in der Rückrunde die Hilfe unserer Rekonvaleszenten. Die Hinrunde war ein Ritt auf der Rasierklinge, und auch die kommenden Monate werden nicht einfacher.
"Wir setzen auf junge, talentierte Spieler"
Warum?Wir bauen bei uns etwas Neues für eine nachhaltige Zukunft des THW Kiel auf. Mit jungen Spielern wie Eric Johansson (24 Jahre, d. Red.), Emil Madsen (24), Elias Ellefsen á Skipagötu (22), Bence Imre (22). Mit einem Kader, in dem zuletzt mit unseren eigenen Nachwuchskräften Linus Kutz, Henri Pabst und Leon Nowottny sieben Spieler standen, die im Jahr 2000 oder später geboren sind. Die Situation ist eine komplett andere als noch vor 10, 15 Jahren, als der THW Kiel wirtschaftlich allen anderen Teams in Deutschland weit voraus war und sich fertige Stars in Serie holen konnte. Die Konkurrenz in Europa und auch in Deutschland ist seitdem stetig gewachsen. Früher war der THW Kiel der einzige Club, der in Deutschland eine große Halle regelmäßig füllte und sich so einen Vorteil verschaffen konnte. Inzwischen spiele fast alle Top-Clubs in großen Arenen, haben viele Clubs in der DAIKIN HBL aufgeholt, einige haben uns sogar überholt. Hannover und Berlin sind gute Beispiele für diese Entwicklung. Deswegen setzten wir jetzt konsequent auf junge, talentierte Spieler. Wir werden aber in die Situation kommen, dass diese jungen Spieler Fehler machen werden. Und das müssen sie auch dürfen, denn nur so können sie sich entwickeln und uns auch in Zukunft helfen.
"Emil, Eric und Dule haben uns in der Hinrunde getragen"
Mit Eric und Emil haben uns zwei der jungen Spieler in der Hinrunde enorm geholfen, oder?
Eric, Emil und Dule haben uns getragen. Dule musste angesichts unserer Verletzungssorgen liefern, und das hat er getan. Unglaublich, dass er so viele Spiele über 60 Minuten bestreiten konnte. Er hat uns mit seiner Erfahrung, seiner Ruhe und seiner Übersicht enorm geholfen, die Dinge, die wir uns vorgenommen hatten, umzusetzen. Eric hatte Anfang des Sommers eine Knie-Operation. Seine Reha ging schneller als gedacht, so konnte er uns sofort helfen. In ihm steckt Weltklasse, aber er hat auch noch ein unglaubliches Potenzial. Auch Eric wird und darf Fehler machen, gleiches gilt für Emil.
Emil ist mit bisher 144 Treffern in 26 Spielen bester Torschütze unserer Mannschaft …
Das muss man sich mal vorstellen: Emil ist zum ersten Mal im Ausland und spielt, als ob er schon sieben Jahre in der Bundesliga ist. Dann bricht er sich im Training vor den drei schweren Spielen in sechs Tagen in Eisenach, gegen Hannover und in Leipzig die Nase. Unser einziger Profi-Rückraum-Linkshänder. Und was macht er? Holt sich grünes Licht von den Ärzten und stellt sich in den Dienst der Mannschaft. Ein Schlag in sein Gesicht hätte das Ende sein können. Stattdessen war er richtig sauer auf mich, als ich ihm in der 58. Minute sagte, dass das Spiel gewonnen sei und er nicht unbedingt mehr das Risiko im Eins-gegen-Eins gehen soll, weil wir drei Tage später wieder spielen. Aber er will immer Tore erzielen, und das macht ihn so sympathisch. Er hat uns auch in dieser Phase unglaublich als Vorbereiter geholfen. Wie wir über lange Strecken mit den drei Spielern im Rückraum performt haben, war schön. Das muss man honorieren, denn das ist nicht selbstverständlich.
"Dass wir uns und unseren Fans den Traum von Köln erfüllt haben, freut mich besonders"
Fällt deine Hinrunden-Bilanz auch deshalb positiv aus?
Ja, aber nicht nur deshalb. Eine Szene nach dem Auswärtssieg in Leipzig ist mein Moment der Hinrunde. Wir spielen dort gut, geraten trotzdem in Rückstand. Die Akkus waren bei meinen Jungs komplett leer, am liebsten hätte ich alle meine Spieler in den Arm genommen. Das geht aber nicht, also habe ich ihnen mit den Auszeiten ein wenig Luft verschafft. Wir drehen das Spiel, und als ich nach dem Abpfiff in die Kabine kam, saßen alle zusammen. Niemand war am Handy, niemand auf der Behandlungsliege. Die Jungs saßen einfach zusammen und haben sich gemeinsam über den Erfolg gefreut. Da habe ich gespürt, dass hier etwas zusammenwächst. Ich kann sehr unangenehm werden, wenn mir etwas nicht gefällt. Aber an diesem Tag war ich einfach nur stolz auf meine Jungs. Das, was sie Ende November und Dezember geleistet haben, ist nicht selbstverständlich. Unsere Serie mit zehn Siegen in Folge ist nicht selbstverständlich. Und auch unsere Qualifikation für das Final4 im DHB-Pokal in Köln war nicht selbstverständlich. Dass wir uns und unseren Fans diesen Traum erfüllt haben, freut mich besonders.
"Dese Liga ist brutal, diese Liga ist wunderbar"
Und das so kurz nach der Weltmeisterschaft…
Ja, das macht es nicht einfacher. 72 Stunden nach dem WM-Finale und 72 Stunden vor dem Kracher gegen den Deutschen Meister aus Magdeburg kann ich nicht normal trainieren lassen. Wir werden uns treffen, vielleicht etwas essen und ein bisschen von den vergangenen Wochen erzählen. Dann werde ich kurz um Aufmerksamkeit bitten, um ein wenig "Magdeburg-Software" draufzuspielen. Aber nicht zu lange, damit keiner der Spieler mental übersäuert. Diese Liga ist brutal, diese Liga ist wunderbar. Und ich liebe es, unsere junge Mannschaft durch diese Liga zu führen, sie in ihrer Entwicklung weiterzubringen. Wir sollten aber auch wissen, dass es eine Korrektur der Entwicklungsstufe geben wird. Dieser Korrektur muss man Ruhe und Raum geben, damit wir etwas Nachhaltiges für die Zukunft unserer THW Kiel schaffen können. Gemeinsam wollen wir das Beste herausholen. Dafür brenne ich, dafür brennen unsere Jungs.
"Auch an unserem magischen Ort entwickelt sich etwas"
Haben die Fans dabei geholfen?
Auf jeden Fall. Auch da habe ich das Gefühl, dass sich an unserem magischen Ort, der Wunderino Arena, etwas entwickelt. Unsere Fans spüren, dass unsere junge Mannschaft mehr Unterstützung braucht, als wir es vielleicht früher mit der Ansammlung an Weltstars gebraucht haben. Dass sie Druck auf den Gegner und die Schiedsrichter ausüben können und damit unserem Team helfen. Die Stimmung zum Beispiel gegen Hannover, im Pokal gegen Gummersbach und in der EHF European League war herausragend, aber auch auswärts haben sich meine Jungs über jeden einzelnen gefreut, der ihnen helfen wollte. Genau diesen Spirit wollen wir mitnehmen ins neue Jahr, denn es wird ein richtig schwieriger Start mit acht schweren Spielen in 24 Tagen.