KN: Am Ende der Achterbahnfahrt
Kiel. Am Ende sorgten beide Seiten schnell für klare Verhältnisse: Christian Dissinger ist ab sofort nicht mehr Spieler des THW Kiel. Der Handball-Rekordmeister und der 26-jährige Rückraumspieler einigten sich - wie von unserer Zeitung vorab berichtet - am Montag endgültig auf die Auflösung des bis zum 30. Juni datierten Vertrages (siehe THW-Bericht). Einen neuen Verein hat der Europameister von 2016 indes noch nicht.
"Ich hege keinen Groll"
Auf dem Weg in seine Heimatstadt Ludwigshafen äußerte sich Dissinger nach belastenden Wochen, in denen der Rechtshänder zum Teil gar nicht mehr von Trainer Alfred Gislason für den Zebra-Kader berücksichtigt worden war, aufgeräumt: "Ich bin nicht sauer, hege keinen Groll. Das gehört zum Sport dazu. Ich habe viele Freunde in Kiel gewonnen. Natürlich hätte ich mir die eine oder andere Minute mehr gewünscht. Ich bin zu sehr Sportler, als dass ich sagen könnte, dass es mir nichts ausgemacht hat, auf der Bank zu sitzen." Doch zuletzt schenkte ihm THW-Trainer Alfred Gislason, der ihn 2015 vom TuS N-Lübbecke nach Kiel geholt hatte, nicht mehr das nötige Vertrauen. "Beide Seiten waren mit der momentanen Situation nicht zufrieden", sagte Viktor Szilagyi, Sportlicher Leiter des THW, am Montag und berichtete von "fairen, von gegenseitigem Respekt geprägten Gesprächen". "Christian braucht viel Spielpraxis. Diese konnten wir ihm bei uns nicht garantieren. Wir bedanken uns ausdrücklich bei 'Disse' für alles, was er im THW-Trikot geleistet hat." Auch Gislason kommentierte die Personalie nicht ohne spürbare Bedrückung: "Es ist sehr schade. 'Disco' ist ein richtig guter Spieler, ein guter Typ. Aber er war sehr oft verletzt, ist immer wieder ausgefallen. Nilsson, Bilyk, Duvnjak waren jetzt vor ihm. Wir haben einen großen Kader, können nicht alle zufriedenstellen." Zudem sei Dissinger jemand, so Gislason, der "das Gefühl, erster Mann auf seiner Position zu sein", brauche. "Diese Erfahrung habe ich mit ihm gemacht."
Für den stillen, sympathischen 2,02-Meter-Mann endet damit die Achterbahnfahrt Kiel - zum Schluss sogar auf eigene Initiative. EM-Gold und Olympia-Bronze 2016 hatten jeweils (schwere) Verletzungen mit sich gebracht. Ein Wendepunkt war zudem das verlorene Champions-League-Halbfinale 2016 gegen Veszprém (28:31 n.V.), als Dissingers wohl entscheidender Fehlwurf den Ungarn die Verlängerung bescherte, Gislason ihn zunächst heftig anging, sich nach dem Bronze-Match jedoch versöhnt zeigte ("Ich bin sehr stolz auf ihn"). Aufgrund seiner langen Leidenszeit legte der Ludwigshafener eine Pause in der Nationalmannschaft ein, bäumte sich in der Vorsaison dagegen auf, als Abwehrspezialist degradiert zu werden, machte einige starke Spiele und konnte sich schließlich in dieser Saison nicht mehr durchsetzen. "Christian hat sich der Situation gestellt. Das hat nicht geklappt. Das ist Fakt. Aber er muss sich keinen Vorwurf machen. Er hat immer voll mitgezogen", sagte Dissingers Berater Marc Rapparlié am Montag gegenüber unserer Zeitung. Wenn man dann realisiere, dass man keine Rolle mehr spielt, so Rapparlié weiter, müsse man auch konsequent sein. "Und das war Chris. Das Herz hätte sicherlich anders entschieden als der Kopf." Soll heißen: Ein Aussitzen des Vertrages kam für den 26-Jährigen nicht in Frage. "Ich fühle mich zu jung, um einen Vertrag auszusitzen. Ich will spielen. Und ich wollte mir mit der parallelen Suche nach einem Verein keinen unnötigen Druck machen, sondern mit dem THW erst alles sauber und fair klären."
Nach 130 Spielen und 235 Toren im THW-Dress ist Dissinger nun vorerst arbeitslos. Bereits vor der Saison hatte der THW ein Leihgeschäft angestrebt. Darüber hinaus sollen damals Vereine wie Vardar Skopje oder RK Celje ihre Fühler nach dem Halblinken ausgestreckt haben; aktuell auch die Bundesligisten DHfK Leipzig und die durch die Verletzung von Paul Drux gebeutelten Füchse Berlin. Interessensbekundungen vom Königsklassen-Klub Vive Kielce werden kolportiert.
"Ich bin komplett offen: Es kann wieder Bundesliga werden, aber auch Ausland - das, was für mich am meisten Sinn macht. Es gab in dieser Woche erste Gespräche und kann jetzt schnell gehen, aber auch noch dauern", so Dissinger, der seine Freunde aus der Mannschaft "vermissen" werde und "mittel- bis langfristig" auch die Nationalmannschaft wieder als Ziel habe. "Es gab verdammt viele tolle Momente. Der Pokalsieg 2017 steht über allem." Herzliche Abschiedsworte fand Kapitän Domagoj Duvnjak: "Es waren wunderschöne drei Jahre, eine richtig gute Zeit mit Disse. Ich wünsche ihm alles, alles Gute und hoffe besonders, dass er gesund bleibt."
(Von Tamo Schwarz, aus den Kieler Nachrichten vom 09.10.2018, Foto: Archiv/Sascha Klahn)