KN: THW Kiel rettet Remis bei den Füchsen Berlin
Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel
Gesprächsbedarf gibt es nach diesen furiosen 60 Minuten zur Genüge. Da wären die noch weiter eingebremsten Titelhoffnungen des Rekordmeisters. "Ich habe noch nicht aufgegeben. Spielerisch war es ein Schritt nach vorn, aber am Ende war es wieder nur ein Punkt. Jetzt kommen die entscheidenden Wochen, die uns Rückenwind geben können", sagt Rune Dahmke. Vujin gibt sich kämpferisch: "Unser Ziel muss jetzt sein, kein Spiel mehr zu verlieren. Ich glaube an den Titel."
Auch die Leistung der Schiedsrichter wächst wieder - wie schon nach dem Pokal-Aus in Hannover - zum Thema. Insbesondere aufgrund einer Szene in der 54. Minute, in der THW-Brocken Steffen Weinhold vom Nationalmannschaftskollegen Paul Drux zu Boden gerissen wird, die Unparteiischen weiterspielen lassen, der Berliner Hans Lindberg per Gegenstoß zum 22:22-Ausgleich trifft. Die Reaktionen der Kieler Protagonisten variieren zwischen "nicht verstanden" (Vujin), "Ich rede nicht gern über die Schieris, aber das war eine Fehlentscheidung" (René Toft Hansen) und ungläubigem Kopfschütteln (Dahmke), zumal das Gespann Schulze/Tönnies auf Nachfrage angab, Weinholds Mitspieler Patrick Wiencek habe seinen Kollegen zu Boden gerissen. Der eigene Mitspieler?
Der erhoffte Befreiungsschlag in der Hauptstadt bleibt also aus, obwohl sich der THW spielerisch erneut verbessert zeigt, an die fantastische Aufholjagd vom Pokalspiel anknüpft. Die offensive 3:2:1-Deckung zündet erneut, Christian Dissinger avanciert auf der Position an der Spitze der Deckung zu echter Weltklasse, initiierte unzählige Ballgewinne. Allein Rune Dahmke weiß nach zwölf Minuten schon vier Treffer auf seinem Konto. So entwickelt sich eine erste Halbzeit, in der sich beide Teams viele unnötige Fehler leisten, aber auch ein atemberaubendes Tempo gehen. In der beide Mannschaften Fehlwürfe anhäufen, sich Niklas Landin (THW) und Silvio Heinevetter (Füchse) aber auch ein totes Rennen um die Torwart-Krone liefern.
Imposant ist die Kieler Offensive an diesem Sonnabendmittag am Prenzlauer Berg am ehesten mit dem formverbesserten Nikola Bilyk in der Rückraum-Mitte (mit Dissinger und Weinhold an seiner Seite). Imposant ist aber auch der Berliner Innenblock mit Jakov Gojun, der wechselweise mit Erik Schmidt oder Drago Vukovic agiert. Und ebenso die Leistung des schnellen Linksaußen Kevin Struck oder die von Nationalspieler Steffen Fäth. Hätte Fäth doch bloß bei der WM im Januar so gespielt - Deutschland wäre nie und nimmer gegen Katar ausgeschieden. Fäth trifft achtmal, schultert die Verantwortung auch, weil Berlin Über-Spieler Petar Nenadic in dieser Abwehrmühle, die Christian Dissinger und René Toft Hansen als Achse in der 3:2:1 konstruieren, nahezu abgemeldet ist.
Nach der Pause tritt der THW auf wie elektrisiert. Die letzte Chance auf den Titel! Wenn überhaupt. Als Landin ins leere Tor der Füchse zum 18:15 trifft (36.), schwingt das Pendel in Richtung THW. "Dann scheitern wir dreimal frei an Heinevetter, bauen den Vorsprung nicht weiter aus", sagt Alfred Gislason später. Die Füchse gleichen aus, der THW legt immer wieder ein Tor vor, ist plötzlich (46.) 100 Sekunden in Überzahl - und wirft diesen Wendepunkt, diese große Chance, sich abzusetzen, hektisch und leichtfertig weg. Das wird bestraft. Landin pariert Nenadic (45.), entnervt jetzt auch Struck (53.), baut sich drohend in seinem Kasten auf. Dann wird Weinhold umgerissen, und jetzt beginnt die Phase, in der die Zebras wieder einknicken, falsche Entscheidungen treffen. Vujin und Zarabec nehmen sich schlechte Würfe, scheitern an Heinevetter. Beim 24:23 (58.) erzielt Fäth die erste Führung der Füchse nach der Pause überhaupt. Die Schlussminute offenbart echte Krimi-Qualitäten: Dahmke per Zauberwurf zum 24:24, Kevin Struck trifft 15 Sekunden vor dem Ende zum 25:24, nur noch ein Angriff, Christian Zeitz übernimmt Verantwortung und holt einen Siebenmeter heraus, den Ekberg drei Sekunden vor dem Schlusspfiff verwandelt. 25 Tore auf der einen Seite, 25 auf der anderen. Die Berliner lassen die Köpfe hängen, dabei schieben sie sich vorläufig an die Spitze der Tabelle. Und bei den Kielern? Rechnen! "Wir selbst treffen in den letzten zehn Minuten zu viele Fehlentscheidungen. Das geht in einem Top-Spiel nicht", so Toft Hansen. "Unser Ziel ist es jetzt, alle Spiele bis Weihnachten zu gewinnen."
(Von Tamo Schwarz, aus den Kieler Nachrichten vom 23.10.2017, Foto: Archiv/Sascha Klahn)