33:24 gegen Balingen: Ein Heimsieg mit Gänsehaut-Faktor
Endlich wieder: Zuschauerschlangen vor der Wunderino-Arena, drinnen formierte sich die "weiße Wand", 9000 enthusiastische THW-Fans sorgten nach einer Auszeit von 549 Tagen für Gänsehaut-Feeling, ließen ihrer Freude über die Rückkehr in ihre Handball-Heimstätte freien Lauf. Da ließen sich auch die Zebras beim Start in die Punktrunde der LIQUI MOLY Handball-Bundesliga 2021/2022 gegen HBW Balingen-Weilstetten nicht lumpen. Nach Anlaufproblemen in der ersten Halbzeit und Problemen zu Beginn der zweiten Hälfte drehten die Männer von Trainer Filip Jicha in den letzten 15 Minuten voll auf und brachten die ersten Punkte mit einem hochverdienten und standesgemäßen 33:24 (13:11)-Sieg unter Dach und Fach.
Sagosen: "Zuschauer haben uns wahnsinnig geholfen"
Was für ein Bild nach 549 Tagen zumeist gähnender Leere!
"Wir hatten nach einem guten Start ein kleinen Durchhänger", analysierte Rückraum-Ass Sander Sagosen, "haben dann in den letzten 15 Minuten hinten super gestanden und uns klar abgesetzt." Die Zuschauer, so der Norweger, der sein erstes Spiel im THW-Trikot vor vollen Rängen in der Wunderino Arena spielen durfte, "haben uns dabei wahnsinnig geholfen." Sagosen und Niclas Ekberg waren mit jeweils sechs Toren beste Kieler Torschützen, bei den "Galliern von der Alb" traf Fabian Wiedestein fünfmal, war damit erfolgreichster Werfer des Außenseiters aus Baden-Württemberg.
2:34 bis zum ersten Jubelorkan
Sander Sagosen traf sechs Mal
Die Partie startete mit 10 Minuten Verspätung, damit alle Zuschauer trotz der schwierige Anreise-Situation und der Kontrollen sicher und einigermaßen entspannt die Arena betreten konnten. Der THW-Motor kam ebenfalls nur langsam auf Touren - aller Anfang ist bekanntlich schwer. Das erste Saisontor auf dem THW-Parkett erzielte ausgerechnet HBW-Shooter Vladan Lipovina, Sander Sagosen traf im Gegenzug zum 1:1 - 2:34 Minuten hatte es gedauert, bis erstmals wieder ein vielstimmiger Jubel-Chor in der Handball-Kathedrale erklang. 5:4 hieß es nach zwölf Minuten für die Kieler, Probleme hatten die THW-Spieler vor allem mit Balingens Schlussmann Mario Ruminsky, der bis zu diesem Zeitpunkt bereits fünfmal irgendeinen Körperteil an den Ball brachte, einen höheren THW-Vorsprung verhinderte.
Bilyk feiert sein Bundesliga-Comeback
Endlich wieder da: Nikola Bilyk herzt nach dem Schlusspfiff Sander Sagosen
Dann nahmen die Zebras Fahrt auf: Ein 4:0-Lauf durch Steffen Weinhold, Niclas Ekberg (2) und Harald Reinkind bescherte den Zebras die zwischenzeitliche 9:4-Führung, Ekberg erzielte per Siebenmeter auch das 10:5. Doch die Gäste ließen nicht locker, blieben dem THW auf den Fersen, setzten Nadelstiche. Dann der nächste Gänsehaut-Moment: In der 22. Minute beorderte Jicha seinen Rückraumspieler Nikola Bilyk ins Spiel - ein Jahr lang hatte der Österreicher mit einer schweren Knieverletzung aussetzen müssen, sein Comeback feierten die Fans lautstark.
Knappe Pausenführung
Auf dem Parkett suchten die Zebras zunächst weiterhin nach Konstanz und dem richtigen Dreh-Regler für ihre Emotionen angesichts der großartigen Kulisse. Die 12:7-Führung, die Harald Reinkind per Rückraum-Kracher erzielte, schmolz bis zum Pausenpfiff der Unparteiischen Niels Wienrich und Julian Fedtke auf 13:11 zusammen, weil den Kieler in ihrem steten Vorwärtsdrang einige Fehler unterliefen.
Zweite Hälfte wird zum Geduldsspiel
Nahm die Zügel in die Hand
Der Beginn der zweiten Hälfte geriet dann gar zum Geduldsspiel für die Kieler Mannschaft und ihre Fans. Zindel und Nothdurft nutzten Löcher in Kiels Abwehr zum 13:13, Harald Reinkind warf den THW wieder in Front, aber die Alp-Gallier ließen nicht locker, blieben komplett auf Augenhöhe und legten in der 39. Minute durch Nothdurft gar eine 17:16-Führung vor. Sander Sagosen und Domagoj Duvnjak, der einmal mehr in einer schwierigen Phase die Zügel in die Hand nahm, drehten den Spieß auf 18:17 um, doch als Heinzelmann in der 45. Minute zum 20:21 traf, wurde manch einer auf der Tribüne nervös.
Bilyk setzt den Schlusspunkt
Die Kieler - hier Rune Dahmke - spielten mit den Emotionen, die ihnen Fans lieferten
Jicha reagierte, stellte die Defensive auf die 3-2-1-Deckung um - und seine Spieler verstanden. Arbeiteten, verdichteten, spielten nun mit Gegner und den Emotionen, die ihnen die Fans auf den Tribünen lieferten. Kurzum: Die Zebra kamen in der Schlussviertelstunde richtig auf Trab. Auch, weil Niklas Landin hinter nun wesentlich agileren Defensive einige tolle Paraden zeigte. Hendrik Pekeler nach grandiosem Sagosen-Anspiel, zweimal Rune Dahmke, Sagosen und zweimal Niclas Ekberg mit Gegenstößen nach exakt getimten Pässen von Landin und Pekeler ließen den Kessel richtig kochen, mit dem 7:0-Lauf in nur sechs Zeigerumdrehungen verzückten die Kieler ihre Fans: Die Vorentscheidung war in der 51. Minute beim 28:20 gefallen. Die Stimmung explodierte, Jicha brachte nun Youngster Leon Ciudad auf die Platte. Das Sahnehäubchen auf den letztlich klaren Sieg setzte dann ausgerechnet Nikola Bilyk per Steel, den er selbst zum 33:23 vollendete. Der Gänsehaut-Schlusspunkt, den die Fans mit standing ovations honorierten, ehe die Kieler Handballer die Rückkehr der "weißen Wand" mit der gemeinsamen La Ola feierten,
Samstag in Melsungen
Endlich wieder gemeinsam jubeln - Patrick Wiencek genoss die Ovationen der Fans
Für die Kieler nimmt die Spielzeit direkt nach dem Start bereits ordentlich Fahrt auf: Am Samstag steht bei der MT Melsungen, die ihren Kader einmal mehr verstärkt hat, das erste Spitzenspiel der noch jungen Saison an. Für die Begegnung in der Kasseler Rothenbach-Halle gibt es im Webshop der MT noch Tickets. Voraussetzung für den Einlass ist, dass man vollständig geimpft oder genesen (2G) ist. Geleitet wird die Partie von Ramesh und Suresh Thiyagarajah, Sky überträgt ab 20:30 Uhr live aus Kassel. Weiter geht's bei der MT Melsungen, Kiel!
Text: Reimer Plöhn / Fotos: Sascha Klahn
LIQUI MOLY HBL, 1. Spieltag: THW Kiel - HBW Balingen-Weilstetten: 33:24 (13:11)
THW Kiel: N. Landin (1.-55., 12 Paraden), Quenstedt (55.-60., 1 Parade); Ehrig (1), Duvnjak (3), Sagosen (6), Reinkind (4), M. Landin (n.e.), Weinhold (5), Wiencek, Ekberg (6/3), Ciudad, Dahmke (3), Zarabec (1), Horak, Bilyk (1), Pekeler (3); Trainer: Jicha
HBW Balingen-Weilstetten: Sejr (52.-60., 1 Siebenmeter, keine Parade), Ruminsky (1.-60.,10 Paraden),; Lipovina (4), Huber, Thomann (1/1), Ingason (2), Nothdurft (2), Wiederstein (4), Gretarsson (1), Zintel (1), Schoch, Scott (1), Stevanovic (1), Saueressig, Volz (1), Heinzelmann (2), Strohsack (2); Trainer: Bürkle
Schiedsrichter: Julian Fedtke / Nils Wienrich
Zeitstrafen: THW: 4 (Pekeler (5.), 2x Duvnjak (13., 27.), Weinhold (56.)) / HBW: 5 (Lipovina (4.), 2x Schoch (9., 43.), Ingason (16.), Heinzelmann (46.))
Siebenmeter: THW: 3/3 / HBW: 1/1
Spielfilm: 0:1, 2:1, 5.4 (12.), 9:4 (17.), 10:5, 10:7 (22.), 12:7 (25.), 12:9 (28.), 13:11;
13:13 (32.), 16:15 (36.), 16:17 (39.), 18:17 (41.), 21:20 (45.), 28:20 (51.), 31:22 (55.), 33:24.
Zuschauer: 9.000 (ausverkauft) (Wunderino Arena, Kiel)
Stimmen zum Spiel:
THW-Trainer Filip Jicha: Ich bin im Großen und Ganzen zufrieden mit unserem Spiel, aber wir haben auch noch viel Arbeit vor uns. Die erste Halbzeit haben wir ganz gut im Griff gehabt, ehe wir die Geduld verloren haben, weil wir uns zu hektisch aus unserem Konzept haben bringen lassen und uns zu schnell absetzen wollten. Das darfst du dir in der Bundesliga, in der alle Teams bockstark sind, nicht erlauben - aber das war heute sicherlich auch dem ersten Heimspiel seit langer Zeit mit Zuschauern geschuldet, da wollte sich jeder meiner Spieler zeigen. Nach der Umstellung auf die 3-2-1 kam der Fleiß, die Arbeit und die Energie, wir haben Balingen dann zu Würfen gezwungen, und Niklas Landin war da. So konnten wir uns absetzen.
Zur Rückkehr der Fans: Ich muss lange überlegen, wann ich jemals in meinem Profileben so ein intensives Gefühl wie heute gehabt habe. Es war sehr bewegend, schon beim Betreten der Halle. Da war die "weiße Wand", da war die Luft anders, da war dieser Jubel. Ich möchte Viktor, dem Aufsichsrat und allen Mitarbeitern unserer Organisation gratulieren, dass sie uns dieses Modellprojekt und dieses Erlebnis ermöglichen konnten. Ich möchte mich auch bei Stadt und Land bedanken - und bei jedem einzelnen Fan, der heute da war. Ich hoffe, sie hatten den gleichen Spaß wie wir: Der Spitzenhandball in Kiel lebt wieder!
HBW-Trainer Jens Bürkle: Für die ersten 45 Minuten muss ich meiner Mannschaft ein Riesen-Kompliment machen. Bis zum 21:20 hatten wir alles, Steals, Blocks, eine gute Torwartleistung und einen guten Abschluss. Danach haben wir dann nicht mehr diese Energie aufs Feld gebracht, und der THW KIel konnte viel zu schnell davonziehen. Aber ich habe viele gute Dinge bei meiner Mannschaft gesehen, auf die wir aufbauen können. Es steht uns aber noch viel Arbeit ins Haus. Das Spiel mit den vielen tausend Zuschauern war ein ganz tolles Erlebnis. Es hat sich nach dem angefühlt, was unseren Sport ausmacht. Schon bei der Anreise habe ich gemerkt, dass hier heute etwas Besonderes passiert: Ich bin zum zweiten Mal in Kiel beim Aussteigen aus dem Bus mit Applaus empfangen worden, das erste Mal war damals, als wir Stunden zu spät zum Spiel kamen (er lacht)...
THW-Geschäftsführer Viktor Szilagyi: Dieses Bild, diese Stimmung in der Halle - es ist einfach nur Gänsehaut pur, nicht nur bei mir, sondern bei allen. Wir haben es eineinhalb Jahre vermisst und es ist einfach nur ein wahnsinnig gutes Gefühl. Ich muss betonen, dass wir in allen Bereichen zwischen Stadt und Land nur Unterstützung erfahren haben. Es ist ein sehr komplexes Thema über Wochen und wir sind auch sehr dankbar, dass dieses Projekt wissenschaftlich begleitet wird. Ich möchte mich bei all unseren Mitarbeitern bedanken, die in den vergangenen Wochen sehr, sehr viel Arbeit in dieses Modellprojekt gesteckt haben, aus dem wir auch im Nachgang viele Erfahrungen sammeln können werden.