
Eine überragende Hälfte reicht nicht: THW Kiel kassiert erste Saison-Niederlage
Gekämpft bis zum Umfallen, dem andauernden Verletzungspech getrotzt und eine überragende erste Hälfte gespielt: Trotzdem reichte es für den THW Kiel nicht zum Sieg zweiten Sieg in acht Jahren bei der SG Flensburg-Handewitt. Denn eine großartige, energiegeladene Halbzeit war am Sonnabend-Nachmittag in der seit Wochen mit 6300 Fans ausverkauften GP Joule Arena zu wenig. Der THW Kiel unterlag am Ende eines atemberaubenden 113. Nordderbys in Flensburg mit 34:36 (19:16) Toren und kassierte damit die erste Saison-Niederlage. Am Ende entschieden einmal mehr Kleinigkeiten das "Spiel der Spiele" der Handball-Welt: Zehn technische Fehler der Zebras und eine zu große Ungeduld nach Wiederanpfiff verhinderten Zählbares.
Kleinigkeiten entschieden das Spiel
Bester Torschütze beim Sieger war Lasse Möller mit zehn Toren, bei den Kielern war einmal mehr Elias Ellefsen á Skipagötu am häufigsten erfolgreich: Der Färinger, der über 60 Minuten von der harten Flensburger Abwehr beackert wurde, traf siebenmal ins Schwarze. Kiels Schwächephase gleich nach Wiederanpfiff, als den Gastgebern mit dem überragenden Kevin Mölller im Tor ein 9:2-Lauf gelang, war die Basis zum letztlich etwas glücklichen Erfolg der SG. Die Zebras kämpften sich bis zur Mitte der zweiten Hälfte zwar wieder auf zwei Tore heran, haderten dann aber zurecht mit dem ansonsten guten Schiedsrichtergespann Baumgart/Dinges, das einem sehenswerten Solo-Tor von THW-Kapitän Domagoj Duvnjak wegen eines angeblichen Schrittfehlers die Anerkennung verweigerte. Eine klare Fehlentscheidung, wie die TV-Bilder bewiesen. Statt des 25:27 kassierten die Zebras im folgenden Gegenzug das 24:28 - ein weiterer Nackenschlag, eine weitere Kleinigkeit, die das Spiel kippen ließ.
Kieler Verletzten-Trio unterstützt neben dem Feld
Die Mannschaft von Trainer Filip Jicha bot über weite Strecken eine glänzende Partie, war über weite Strecken auf Augenhöhe mit dem Titelfavoriten, obwohl sie neben den Langzeitverletzten Hendrik Pekeler (Achillessehne) und Gonzalo Perez de Vargas aktuell auch auf Linkshänder Emil Madsen verzichten muss. Der Däne, in der vergangenen Saison erfolgreichster Torschütze der Kieler, fällt mit einem Knorpelschaden bis Ende des Jahres aus. Zudem ist er einer der Schlüsselspieler des neu entfachten Tempospiels beim deutschen Handball-Rekordmeister. Alle drei Kieler Rekonvaleszenten unterstützen ihre Mannschaft in Flensburg neben dem Feld, während Harald Reinkind als Einzelkämpfer auf Rückraum rechts die von Madsen gerissene Lücke füllte. Der Norweger, knapp ein Jahr nach einer Reihe von Operationen außer Gefecht, kämpfte sich in Flensburg mit zunehmender Spielzeit gut ins Kieler Spiel, wurde allerdings von der Flensburger Deckung schnell und hart attackiert, sodass am Ende bei Reinkind zwei Treffer auf der Habenseite standen.
Kieler kommen schwer in die Partie
Die "Hölle Nord" brannte von Beginn an, die Zebras wurden bei jedem Ballkontakt ausgepfiffen - Derbystimmung pur. Die neuformierte Kieler Mannschaft zeigten in den ersten Minuten auch Nerven, warf Bälle weg. SG-Keeper Buric war zudem sofort gegen Elias Ellefsen á Skipagötu zur Stelle, Tönnesen nutzte Flensburgs erste Chance zur 1:0-Führung. Dann unterlief Eric Johansson ein Fehlpass, Lasse Möller bestrafte das zum 2:0. Als Reinkind dann ebenfalls seinen Meister in Buric fand, drohte ein THW-Fehlstart. Aber im Kieler Tor steht bekanntlich auch ein Meister seines Fachs: Andreas Wolff parierte famos gegen Johannes Golla, leitete mit drei Paraden in Folge einen blitzsauberen Kieler 4:0-Lauf ein. Nach glänzendem Diagonal-Pass von Johansson verkürzte Lukas Zerbe auf 1:2, Magnus Landin traf zum Ausgleich, sorgte zudem für eine Zeitstrafe gegen Tönnesen. Und weil der Kieler Mittelblock mit Petter Överby und Lukas Laube den Laden in der Defensive zusammenhielt, rauschten die Kieler per Doppelschlag nach zwei Solo-Ritten von á Skipagötu auf 4:2 davon, schütteten Wasser ins Feuer der "Hölle".
Zebras drücken aufs Tempo
Jetzt ging es hin und her. Flensburg konterte ebenfalls mit einem 4:0-Lauf, hatte in der elften Minute nach dem 6:4 durch Simon Pytlick die Nase vorn. Der Nordrivale verteidigte die knappe Führung, profitierte auch von Zeitstrafen gegen Kiel: Petter Överby kassierte in der elften Minute bereits seine zweite "Zwangsauszeit", war dadurch bis kurz vor dem Ende keine Option mehr für die Defensive. Während die erste Hinausstellung von Överby aber von Flensburg mit einem "plus zwei" bestraft wurde, hielten die Zebras bei der zweiten Unterzahl kräftig dagegen: Landin traf, und Johansson drosch den Ball zum 7:8 in die Maschen. Wieder vollzählig, legte die SG vor, der THW Kiel ließ aber nicht locker. Mit viel Tempo setzten sie die favorisierten Gastgeber unter Druck. Unermüdlicher Antreiber war erneut á Skipagötu. Und hinten steigerte sich Wolff in Glanzform, hielt gegen die frei vor ihm auftauchenden Golla, Möller, Grgic und auch Pytlick. Weil Lukas Laube die glänzenden Anspiele von á Skipagötu und Johansson zu den ersten Schweizer Derby-Toren aller Zeiten verwertete und dann Reinkind erstmals traf, glich der THW in der 14. Minute zum 14:14 aus.
Drei-Tore-Führung zur Pause
Für die erste Kieler Führung nach langer Zeit sorgte dann Johansson, der von der Siebenmeterlinie einnetzte. Die Umstellung in der Kieler Abwehr auf 3:2:1 mit "Dule" als Speerspitze war ein gelungener taktischer Spielzug. Lasse Möller glich nach 26 Minuten zwar zum 16:16 aus, danach trafen in Halbzeit eins aber nur noch die Zebras: Landin, Zerbe und á Skipagötu ließen die mitgereisten, 200 lautstarken Kieler Fans jubeln. Genau wie die Glanztat von Wolff gegen die frei vor ihm auftauchenden Tönnesen und Jakobsen - die Doppelparade sicherte die 19:16-Führung des THW Kiel zur Pause. Doch die Flensburger kehrten mit unbändiger Wucht aus der Kabine zurück, erwischten einen starken Start in die zweite Hälfte. Dabei profitierten sie allerdings auch von technischen Fehlern der Zebras, die offenbar zu schnell zu viel wollten, ihren kühlen Kopf der ersten Halbzeit verloren. Ein Fehler, der in Flensburg verhängnisvoll ist. Schon in der 35. Minute glich Novak zum 20:20 aus. Er traf wenig später erneut, Möller schwang sich zum Schreckgespenst auf und Golla erhöhte auf 22:20.
Schwarz-weiße Fehler entscheiden Nordduell
Der Kieler Rückzug hatte gegen den Tempo-Express zu wenig entgegenzusetzen, so handelten sich die Spieler von Trainer Filip Jicha den 2:9-Start in die zweite Halbzeit ein. Flensburgs Fans feierten indes ein Möller-Festival. Hinten nagelte Kevin sein Tor zu, vorne war Lasse von der THW-Abwehr nicht zu bremsen. Nach dem weggepfiffenen Duvnjak-Tor setzten sich die Gastgeber langsam ab, die Zebras gerieten angesichts des Vier-tore-Rückstands zusehends unter Zugzwang, blieben aber noch immer in Reichweite. Ein Doppelschlag von Lasse Möller zum 33:28 führte zur Auszeit von Jicha, der nach 53 Minuten alles auf eine Karte setzte: Der junge Leon Nowottny kam für den zuvor glücklosen Andreas Wolff, und eine Parade des Youngsters führte dann auch zum 30:33-Anschluss durch Zerbe. Doch ein Ballverlust und ein Fehlpass führten dann zur Entscheidung: Novak vollendete die Gegenstöße, 200 Sekunden vor dem Ende war angesichts des 30:36 die Messe gelesen, der letzte 4:0-Lauf der Zebras kam zu spät.
Dienstag startet die EHF European League
Zeit, die Niederlage zu verdauen, haben die Kieler allerdings nicht, denn ab sofort geht es für die Zebras wieder Schlag auf Schlag. Die Europapokal-Saison startet jetzt – und das gleich mit einem Kracher: Am Dienstag ist der THW Kiel zu Gast bei Montpellier Handball. Die französiche Top-Mannschaft, die in dieser Spielzeit durch einen Erfolg gegen Paris Saint-Germain bereits die Champions Trophy gewonnen hat, hat sich im Sommer noch einmal namhaft verstärkt. Für die Kieler geht es also direkt zum Auftakt bereits um zwei ganz wichtige Zähler im Kampf um den Hauptrunden-Einzug - und natürlich auch um eine kleine Revanche für die bittere Halbfinal-Niederlage gegen MHB in Hamburg. Anwurf ist um 18:45 Uhr, Dyn und DAZN übertragen live aus der "Sud de France"-Arena. Weiter geht’s in Montpellier, Kiel!
Text: Reimer Plöhn / Fotos: Sascha Klahn
DAIKIN HBL, 8. Spieltag: SG Flensburg-Handewitt - THW Kiel: 36:34 (16:19)
SG Flensburg-Handewitt: Buric (1.-30., 7/1 Paraden), K. Möller (31.-60., 8/2 Paraden); Pytlick (4), Golla (4), Kirkelökke, Grgic (3), Tönnesen (3), Jörgensen, Horgen, Volz, Jakobsen (6/2), Knutzen, Blagotinsek, Novak (5), L. Möller (10); Trainer: Pajovic
THW Kiel: Nowottny (53.-60., 3 Paraden), Wolff (1.-53., 11 Paraden ); Duvnjak (2), Reinkind (2), Landin (5), Överby, J. Dahmke (n.e.), Laube (4), Johansson (6/1), Ankermann (n.e.), R. Dahmke (n.e.), Zerbe (6/1), Bilyk (1), á Skipagötu (7), Imre (n.e.), Nacinovic (1); Trainer: Jicha
Schiedsrichter: Fabian Baumgart / Philipp Dinges
Zeitstrafen: SG: 5 (2x Golla (4., 37.), Tönnesen (7.), Grgic (24.), Novak (44.)) / THW: 5 (2x Överby (9., 11.), Laube (16.), Reinkind (36.), Nacinovic (42.))
Siebenmeter: SG: 3/2 (Jakobsen an die Latte (24.)) / THW: 4/1 (Landin vorbei (17.), Möller hält Laube (32.) und Johansson (50.))
Spielfilm: 2:0 (3.), 2:4 (8.), 6:4 (11.), 8:6, 10:8 (14.), 12:10, 14:13 (21.), 14:15 (25.), 16:16 (27.), 16:19;
2. Hz.: 18:19 (32.), 19:20, 22:20 (36.), 22:21, 25:21 (41.), 25:23 (42.), 26:24, 28:24 (47.), 30:26 (49.), 33:28 (53.), 33:30 (54.), 36:30 (56.), 36:34.
Zuschauer: 6300 (ausverkauft) (GP Joule Arena, Flensburg)
Stimmen zum Spiel:
THW-Trainer Filip Jicha: Glückwunsch an Ales und seine Mannschaft zum Sieg. Ich habe zwei komplett unterschiedliche Halbzeiten gesehen, die aber eine Kleinigkeit gemeinsam hatten: Wir sind jeweils nicht gut reingekommen. In der ersten Halbzeit haben wir die Drucksituationen mit kühlem Kopf heruntergespielt, das 2:9 nach Wiederanpfiff war dann die entscheidende Phase dieses Derbys. Da haben wir es gegen die Abwehr der Flensburger mit der Brechstange versucht, anstatt weiter schlau und frech zu spielen. Da waren wir zu statisch, Flensburg konnte nun auch wieder mit Emotionen kommen. Zehn technische Fehler waren am Ende eine zu große Hypothek, und nach diesem Lauf war das Spiel entschieden, obwohl wir noch Möglichkeiten hatten. Diese erledigten sich dann aber mit der Ausbeute gegen Kevin Möller. In der zweiten Halbzeit haben wir ein wenig den Kopf verloren, vielleicht war da unsere Lust auf den Sieg zu groß. Um hier zu gewinnen, muss man geduldiger und ruhiger spielen. Das Spiel hat gezeigt: Wir brauchen noch diesen einen Entwicklungsschritt, um das 60 Minuten durchzuziehen.
SG-Trainer Ales Pajovic: Ich bin sehr, sehr zufrieden. In der ersten Halbzeit hatten wir mit unserem Rückzug Probleme. Da haben uns das schnelle Kieler Spiel und Elias kaputtgemacht. Und weil wir vorn ein paar Chancen liegenlassen, gehen wir dann mit drei Toren Rückstand in die Kabine. Dort haben wir uns dann gesagt: Wir spielen zu Hause, das Fernsehen ist da, lasst uns All-in gehen. Wir haben uns zurückgekämpft, unsere 6-0 war richtig stark und vorn haben wir Lösungen gefunden gegen die Kieler 5-1 mit Dule. So haben wir uns den Sieg geholt.
THW-Kapitän Domagoj Duvnjak: Diese Niederlage tut verdammt weh. Wir waren in der ersten Halbzeit die bessere Mannschaft, haben aber in den zweiten 30 Minuten viele leichte Tore zugelassen, waren im Rückzug nicht gut genug. 20 Gegentore sind einfach zu viel, außerdem hat Kevin Möller überragend gehalten.
THW-Kreisläufer Lukas Laube: Es hat Spaß gemacht, vor dieser Kulisse ein Derby zu spielen. Leider hat uns nach einer guten ersten Halbzeit das gewisse Etwas gefehlt, um hier zu gewinnen. Die SG kam besser aus der Kabine, da bekommen wir ihre einfachen Tore, die wir unbedingt verhindern wollten. Wir selbst hatten diese im zweiten Durchgang nicht mehr. Mit ein bisschen mehr Ruhe in unserem Spiel wird es noch einmal eng, aber zehn technische Fehler sind dann einfach zuviel. Sie haben uns das Genick gebrochen. Solche Spiele zu verlieren, ist nichts für mich. Ich gewinne lieber und freue mich daher schon jetzt auf das Rückspiel mit unseren Fans.