KN: Schlüsselspiel verloren
Kiel. Sie hatten Platz zwei vor Augen, doch jetzt droht Platz fünf. Die Handballer des THW Kiel haben das Schlüsselspiel gegen den polnischen Meister Vive Kielce in der Champions League am Sonnabend mit 29:30 (17:16, siehe THW-Spielbericht) verloren. Neben den Punkten verloren die Zebras in der ersten Halbzeit auch Steffen Weinhold, der mit einer Oberschenkelverletzung ausfiel. Genaueren Aufschluss muss heute eine MRT-Untersuchung geben.
THW Kiel unterliegt Vive Kielce in turbulenter Partie mit 29:30
Es ist ein turbulentes Spiel, in dem der THW gegen körperlich starke, mal das Angriffsspiel verschleppende und dann wieder explosive Polen anfangs keinen Zugriff in der Deckung bekommt, hinter der es gut 23 Minuten dauert, bis Andreas Wolff die erste Kieler Parade überhaupt gelingt. Wolff bekommt gegen seine künftigen Kollegen (ab 2019) den Vorzug vor Niklas Landin, hält zunächst keinen Ball. Landin aber auch nicht, dann kommt Wolff zurück und findet sukzessive ins Spiel. Wenige Sekunden vor seiner ersten Parade scheidet ein starker Steffen Weinhold unmittelbar nach einer feinen Einzelleistung zum 14:14 (24.) verletzt aus.
Alfred Gislason tut es seinem Kollegen Talant Dujshebaev gleich. Der ist bekannt dafür, nahezu die komplette Mannschaft im Viertelstundentakt zu wechseln. Er gönnt seinen Oldies Uros Zorman (38) oder Michal Jurecki (33) eine Pause, bringt dafür mit Karol Bielecki (36) oder Krzysztof Lijewski (34) nicht weniger Erfahrung. Auch Kiel agiert bis dahin im Angriff blockweise: meist mit Miha Zarabec in der Mitte, Christian Dissinger und Weinhold auf den Halbpositionen, in Überzahl mit Lukas Nilsson, Nikola Bilyk und Marko Vujin. Eishockey lässt am olympischen Wunder-Wochenende grüßen.
Dieses Rezept geht zunächst voll auf, auch weil sich der Sonnabend zum Tag des Assists entwickelt. Weltklasse-Mann Patrick Wiencek profitiert am Kreis gegen die offensive 5:1-Deckung Kielces von sehenswerten Zuspielen von Zarabec, Nilsson, Weinhold und schließlich von einem No-Look-Rückhand-Tipp-Pass Christian Dissingers, der reif fürs Handball-Museum ist. Bis zum 18:17 (32.) bleibt der THW in Führung, leistet sich dann bis zur 40. Minute aber eine kapitale Schwächephase, die in besonderer Weise auch das Gesicht von Marko Vujin trägt. Dem Serben unterlaufen technische Fehler, gefolgt von schlecht vorbereiteten Würfen. Vujin findet keine Bindung zum Spiel, muss auf die Bank. Gislason versucht es zunächst mit drei Rechtshändern, poltert in der Auszeit: "Wir haben keinen Linkshänder!" Dann beordert er Rechtsaußen Niclas Ekberg ("Ich habe früher auch auf Halb gespielt, das ist noch in mir drin") in den Rückraum und Ole Rahmel nach Rechtsaußen.
Dem 2:9-Lauf, der Erinnerungen an die Niederlage in Hannover am Donnerstag wach werden lässt, folgt allerdings eine exemplarische Aufholjagd. "Wir haben Moral bewiesen", sagt Weinhold nach dem Abpfiff. Er kann mitansehen, wie Wiencek erster Adressat für geschmackvolle Anspiele an den Kreis bleibt, wie Nikola Bilyk mit Würfen aus dem Rückraum Verantwortung übernimmt, der THW Tor um Tor aufschließt, nach dem 19:24 (40.) sogar wieder ausgleicht (26:26 durch Wiencek/49.). Er sieht aber auch, wie Dahmke frei nur die Latte trifft (41.), Bilyk einen dieser zu häufigen Risikopässe über das ganze Feld im Gegenstoß nicht an den Mann bringen kann (45.) und wie Ole Rahmel im Gegenstoß von einem gegnerischen Spieler schlicht "umgegrätscht" wird, die Unparteiischen aus Kroatien jedoch Schrittfehler gegen den verständlicherweise zögernden Niclas Ekberg pfeifen. "Damit müssen wir leben, das ist Sport", sagt der Schwede zerknirscht.
Die Halle kocht, pfeift, buht, steht hinter den Zebras, die das Spiel bis zum 28:28 (54.) ausgeglichen gestalten. Dann nimmt die dramatische Schlussphase ihren Lauf: Zarabec scheitert per Siebenmeter an Torwart-Fuchs Slawomir Szmal (56.), Michal Jurecki macht das 30:28 für Kielce (56.). Dann scheitert Dahmke an Szmal (58.), der gleich noch einen Strafwurf von Ekberg pariert (59.). THW-Coach Gislason möchte nach der Partie lieber über die moralische Glanzleistung seines Teams sprechen, sagt aber auch: "Genau das wollten wir nicht, werfen dann aber viermal bei Gegenstößen die Bälle mit langen Pässen weg."
Rahmel gelingt noch das 29:30 (60.), dann wird’s unsportlich, als Kielce die Uhr unfein "herunterspielt", Hektik aufkommt. Noch ein letzter, verzweifelter Wurf von Bilyk, dann ist das Spiel aus. "Jetzt wissen wir, was wir in Paris zu tun haben", sagt Ole Rahmel. Schon ein Remis beim Tabellenführer könnte den Absturz auf Rang fünf, der im Achtelfinale ein Auswärts-Rückspiel bedeuten würde, verhindern.
(Von Tamo Schwarz, aus den Kieler Nachrichten vom 26.02.2018, Foto: Sascha Klahn)