Paris Auswärts-Spielbericht
Was für eine Riesen-Aufholjagd: Der nur mit 13 Spielern angereiste THW Kiel hat in der VELUX EHF Champions League mit einer furiosen zweiten Halbzeit beim Titelfavoriten Paris Saint-Germain einen ganz wichtigen Punkt geholt. Nach einem zwischenzeitlichen Sieben-Tore-Rückstand kämpften die "Zebras", angeführt vom überragenden Torschützen Marko Vujin (11/3) und einem in der zweiten Halbzeit sensationell haltenden Andreas Wolff (14 Paraden), um jede Möglichkeit. Am Ende drehten sie mit einer unglaublichen Energieleistung die Partie, Raul Santos sicherte mit seinem fünften Tor zum 29:28 in der Schlussminute den so wichtigen Punkt: Durch das 29:29 (11:16)-Unentschieden holten sich die Kieler Platz vier in der Gruppe B und damit das Heimrecht im Achtelfinal-Rückspiel. Dort treffen sie jetzt auf den ungarischen Vizemeister Pick Szeged.
Auch Dahmke muss passen
Einmal mehr war THW-Trainer Alfred Gislason auch vor dem abschließenden Gruppenspiel der VELUX EHF Champions League zum Improvisieren gezwungen. Denn neben den Langzeitverletzten Domagoj Duvnjak, Rene Toft Hansen und Steffen Weinhold musste auch Rune Dahmke noch vor dem Abflug in die französische Hauptstadt passen. Eine Schambein-Entzündung verhinderte den Einsatz des Linksaußen an der Seine, der THW reiste nur mit 13 Spielern nach Paris. Auf der Gegenseite konnte Noka Serdarusic bis auf den an einem Muskelfaserriss laborierenden Uwe Gensheimer alles aufbieten, was Rang und Namen hat.
Wiencek und Landin angeschlagen
Das Verletzungs-Drama setzte sich dann auch in Paris fort: Patrick Wiencek kassierte nach einem Zusammenprall mit Christian Dissinger einen "Cut" über der rechten Augenbraue, der vor Ort geklebt wurde, sodass der Kreisläufer wieder mitwirken konnte. Und nach 17 Minuten erwischte es auch noch Kapitän Niklas Landin: Sander Sagosen war in den Kieler Keeper hineingerutscht, der mit einer Oberschenkel-Blessur nicht mehr weitermachen konnte und später nur noch für einen Siebenmeter aufs Feld zurückkehrte. Zu diesem Zeitpunkt war PSG schon klar vorn. Nach einer Anfangsphase mit vielen Fehlern auf beiden Seiten und dem ersten Feldtor nach 6:32 Minuten, Vujin hatte den an den Kreis eingelaufenen Raul Santos zum 1:1 bedient, setzten sich die Franzosen über 3:1 und 4:2 auf 7:2 ab (13.).
Fünf Tore Rückstand zur Pause
Im Angriff fanden die Zebras gegen die Beton-6-0 der Gastgeber kaum ein Mittel, und wenn sie doch eine Lücke fanden, machte Corrales im PSG-Kasten diese zu: Nilsson, Wiencek, Vujin, Bilyk, Dissinger - nahezu jeder Kieler Angreifer fand mindestens einmal seinen Meister in dem Spanier. Hinzu kam wenig Glück mit Schiedsrichter-Entscheidungen, sodass Alfred Gislason nach Bilyks Traumpass auf Wiencek zum 6:9 und dem Hammer des Österreichers zum 7:10 seine Mannen zur Ruhe verpflichten musste. Allerdings: Der THW kassierte viele schnelle Gegentore, während er kaum zum Zug kam: Mit zwei Toren schraubte Stepancic das Ergebnis auf 14:8 (26.), und nach einem per Heber von Nikola Karabatic verwandelten Abpraller stand es 16:9 für die Gastgeber. Vujin erzielte mit seinem fünften Treffer den 10:16-Anschluss, und quasi mit dem Halbzeitpfiff gelang Bilyk noch das 11:16.
THW startet Aufholjagd
Die beiden Treffer gegen Ende der ersten Halbzeit machten den Kielern Mut - hatten sie doch gezeigt, dass das Abwehrbollwerk der Franzosen durchaus auch Möglichkeiten zuließ. Trotzdem begann die zweite Hälfte mit einem herausgespitzelten Pass auf Wiencek, den Keita mit dem 17:11 bestrafte. Ein Pass von Vujin auf Wiencek, der zum 12:17 einnetzte, sollte die Aufholjagd der Kieler starten. Und diese war eng verbunden mit Andreas Wolff: Der Torhüter, der am Vortag seinen 27. Geburtstag gefeiert hatte, wurde jetzt zu einem wichtigen Faktor, hielt gegen Hansen und Sagosen zwei weitere Siebenmeter, bediente zudem Santos mit einem weiten Pass zum 13:17. Doch die Schwarz-Weißen machten weiter Fehler, verpassten bei einigen Angriffen ein weiteres Herankommen. Aber auch PSG ging nun nicht fehlerfrei vor: Nikola Karabatic' Pass ins Leere ließ Bilyk zum Gegenstoß-Tor starten, dann setzte der ehemalige Kieler einen Ball an den Pfosten, was Vujin mit ganz viel Dampf zum 15:17 veredelte. Nach 35 Minuten war der THW Kiel wieder im Spiel - und PSG-Coach Noka Serdarusic reagierte mit einer wütenden Auszeit.
THW schafft den Ausgleich
Gislason brachte nun Zarabec, um seinem viel beanspruchten Rückraum ein wenig Luft zu verschaffen. Und die Hereinnahme machte sich schnell bezahlt: Der quirlige Slowene bediente Santos zum 16:18, legte selbst das 17:19 nach. Aber es blieb dabei: Paris legte vor, der THW musste ständig reagieren. Und machte das großartig: Hinten kämpfte Ole Rahmel mit allem, was geht, legte sich dabei nicht nur mit Karabatic, sondern auch mit dem Publikum an. Wiencek bewies in Überzahl Übersicht und traf zum 19:20 aus der eigenen Hälfte ins leere Pariser Tor, und Rahmel holte einen Siebenmeter heraus, den Vujin sicher verwandelte. Nach 44 Minuten war der THW Kiel erstmals wieder auf Augenhöhe mit dem Titelfavoriten, das 20:20 traf die Gastgeber aber nur kurz ins Mark. Sie beantworteten Vujins 21:21 mit einer Schnellen Mitte, zwangen den THW zu einem Fehler, den Karabatic mit Urgewalt zum 23:21 verwandelte. Und wieder war es Vujin, der die Zebras im Spiel hielt: In Unterzahl hämmerte er den Ball aus elf Metern zum 22:23 unter die Latte, was die Karabatic -Brüder im Zusammenspiel aber gleich wieder konterten.
Zebras lassen sich nicht abschütteln
Das war der Auftakt zu einer packenden, dramatischen Schlussphase, in der Nikola Karabatic mit großem Talent eine Zeitstrafe gegen Rahmel provozierte und Remili mit zwei verwandelten Siebenmetern PSG in der Spur hielt. Den THW abschütteln konnte das Star-Ensemble aber nicht mehr. Vujin jagte auch Omeyer den Ball um die Ohren, Wolff hielt gegen Abalo, aber die Kieler konnten dies nicht zum Ausgleich nutzen. Wieder ging Paris mit zwei Toren weg - der in der Schlussphase groß auftrumpfende Nilsson konterte mit einer Einzelleistung über den rechten Rückraum. Wolff parierte gegen Remili, Bilyk wurde ein Tor weggepfiffen. Ein erneuter Rückschlag, den die Zebras aber wegsteckten. Bilyk bediente Santos, und der Linksaußen traf vier Minuten vor dem Ende zum 27:27.
Dramatische Schlussphase mit Riesen-Jubel
Jetzt wurde es richtig dramatisch: Wiencek kassierte seine dritte Zeitstrafe - ohne Abwehrchef ging es in die entscheidende Phase. Und in dieser machte ein Youngster alles richtig: Sebastian Firnhaber sicherte seiner Mannschaft mit einem Steal den wichtigen Ballbesitz, um dann mit Glück und ganz viel Geschick zum 28:27 einzuwerfen. Die Entscheidung war dies aber nicht, weil 50 Sekunden vor dem Ende Nahi zum Ausgleich traf. Gislason nahm 19 Sekunden vor Ultimo die Auszeit, der THW spielte Santos frei, der Omeyer zum 29:28 bezwang. Riesen-Jubel, auch wenn Abalo noch der Ausgleich gelingen sollte. Konfusion, weil Stepancic den Anwurf von Firnhaber behinderte. Aber auch so blieb der THW in Ballbesitz - Bilyks finaler Wurf wurde zur Beute von Omeyer. Doch das interessierte in Schwarz-Weiß niemanden mehr: Mit einer unglaublichen Energieleistung hatte der THW Kiel den Gastgebern den ersten Königsklassen-Punktverlust vor eigenem Publikum seit fast einem Jahr zugefügt und sich mit einer überragenden Mannschaftsleistung Platz vier gesichert.
Im Achtelfinale gegen Pick Szeged
Durch den grandiosen Punktgewinn beim großen Titel-Favoriten holten die "Zebras" im Endklassement der Gruppe B Platz vier. In der Runde der besten 16 Mannschaften Europas treffen sie nun zunächst auswärts auf den ungarischen Vizemeister Pick Szeged. Das Rückspiel in der Sparkassen-Arena wird, die Zustimmung der EHF und der Fernsehanstalten vorausgesetzt, am Oster-Wochenende ausgetragen. Der freie Vorverkauf für das Achtelfinal-Heimspiel hat bereits begonnen (siehe Extra-Artikel), Karten im freien Verkauf gibt es auch im Online-Ticket-Shop. Jetzt gilt es gegen die Szeged: Auf geht's in die K.o.-Runde der Königsklasse, Kiel!
Statistik: VELUX EHF Champions League, 14. Spieltag: Paris Saint-Germain (FRA) - THW Kiel: 29:29 (16:11)
Paris Saint-Germain: Corrales (1.-52., 13/1 Paraden), Omeyer (52.-60. und 1 Siebenmeter, 2 Paraden); Möllgaard, Stepancic (2), Keita (4), Sagosen (3), Kounkoud (1), Damjanovic, Remili (5/3), Abalo (1), L. Karabatic (3), Hansen (2/2), Narcisse (n.e.), Nielsen (2), N. Karabatic (4), Nahi (2); Trainer: Serdarusic
THW Kiel: Landin (1.-17. und 1 Siebenmeter, 3 Paraden), Wolff (17.-60., 14/3 Paraden); Firnhaber (1), Dissinger, Wiencek (3), Ekberg, Frend Öfors (n.e.), Rahmel, Zarabec (1), Vujin (11/3), Bilyk (5), Nilsson (3), Santos (5); Trainer: Gislason
Schiedsrichter: Zigmars Sondors / Renars Licis (LAT)
Strafzeiten: PSG: 6 (3x N. Karabatic (1., 41., 59.), Keita (44.), Nahi (51.), Stepancic (60.)) / THW: 7 (2x Dissinger (7., 13.), 3x Wiencek (10., 48., 58.), Nilsson (21.), Rahmel (51.))
Rote Karte: Karabatic (3. Zeitstrafe (59.) / Wiencek (3. Zeitstrafe, (58.))
Siebenmeter: PSG: 7/4 (Wolff hält 2x Hansen (17., 31.), Sagosen (36.)) / THW: 4/3 (Ekberg an den Pfosten (11.)
Spielfilm: 1:0 (6.), 1:1 (7.), 3:1 (8.), 3:2, 7:2 (13.), 8:3, 8:5 (18.), 9:6, 10:7 (22.), 13:7 (24.), 14:8 (26.), 16:9 (29.), 16:11;
17:11 (32.), 17:15 (35.), 18:16, 20:17 (40.), 20:20 (44.), 21:21, 23:21 (48.), 24:22, 25:23 (51.), 27:25 (54.), 27:28 (59.), 28:28 (60.), 28:29, 29:29.
Zuschauer: 3.000 (Stade Pierre de Coubertin, Paris (FRA))
Stimmen zum Spiel:
THW-Trainer Alfred Gislason in den Kieler Nachrichten: Wir brauchten genau diesen einen Punkt, um in der Gruppe vor Kielce zu bleiben. Darum bin ich sehr froh. Meine Mannschaft hat mit sehr viel Herz und Charakter gespielt, das macht mich sehr stolz. Gegen Szeged wird es sicher nicht leichter als gegen die Löwen, aber interessanter. Sonst hätten wir in einer Woche dreimal gegen die Löwen spielen müssen.
PSG-Trainer Noka Serdarusic in den Kieler Nachrichten: In der zweiten Halbzeit hat Andreas Wolff nach zehn Minuten schon sechs Bälle gehalten. Das hat uns den Zahn gezogen. Plötzlich war meine Mannschaft im Angriff zu nervös, hat nicht mehr taktisch gespielt, sondern nur noch mit Kampf und Krampf. Dann lagen die Karten gegen uns. Das Ergebnis ist für uns unwichtig, aber am Ende gerecht.
Ole Rahmel in den Kieler Nachrichten: Ich finde, dass ich ein konstant faires Spiel gemacht habe, und weiß auch nicht, warum sich die Zuschauer auf mich eingeschossen haben. Paris hat von Anfang an versucht, Zeitstrafen zu schinden. Dass wir am Ende noch die Chance auf den Sieg haben, hat vorher kaum jemand für möglich gehalten. In der Pause hat Alfred gesagt: "Eure Chance kommt noch!"
THW-Rückraumspieler Lukas Nilsson in den Kieler Nachrichten: Alle meine Mitspieler haben mir sehr geholfen, und auch Alfred und Viktor auf der Bank. Alfred hat gesagt, ich soll alles, was war, ausblenden und mich auf den nächsten Angriff konzentrieren. Das habe ich gemacht und dann getroffen. Auch das, was letztes Jahr hier war, war uns egal. Wir haben einfach ruhig weitergespielt.
PSG-Torhüter Thierry Omeyer in den Kieler Nachrichten: Nach der Pause haben wir zu viele Bälle verworfen. Ich denke schon, dass das Ergebnis fair ist und für uns sogar ein bisschen glücklich. Der Champions-League-Sieg ist unser großes Ziel, das wollen wir Noka zum Abschied und uns schenken. Alle Spieler sind nur deswegen in Paris. Bisher spielen wir sehr konstant. Aber jetzt beginnt ein ganz neuer Wettbewerb.