23:22 in Lemgo: Zebras beenden das Jahr 2024 mit dem zehnten Sieg in Folge
Nächster Streich der Kieler Mentalitätsmonster: Etwas Glück war zwar dabei, verdient hatten sich die Zebras ihren 23:22 (14:13)-Triumph am zweiten Weihnachtsfeiertag beim TBV Lemgo Lippe aber allemal. Nach einem echten Handball-Krimi, der kämpferisch, körperlich und nervlich an die Substanz von allen Beteiligten ging, entschied sich die 60 Minuten lang leidenschaftlich geführte Partie in der letzten Sekunde, als Niels Versteijnen beim finalen Wurf in den Kreis trat. Der THW feierte mit seinen Fans seinen Wettbewerb übergreifend zehnten Sieg in Folge. Damit festigten die Zebras ihren Platz in der Spitzengruppe der DAIKIN Handball-Bundesliga und gehen mit guter Laune und einem unglaublichen Team-Spirit in die WM-Wochen.
Drama in den Schlusssekunden
In den letzten Sekunden einer nicht immer hochklassigen, aber ungemein packenden und spannenden Partie wurde das letzte Spiel des Jahres zum Thriller: Lemgos Niels Versteijnen tauchte in letzter Sekunde vor dem Tor des überragenden THW-Keeper Andreas Wolff auf, brachte den Ball von der Rechtsaußenposition auch im Tor unter. Der Jubel in der mit 4520 Fans rappelvollen Phoenix-Contact-Arena verstummte aber unmittelbar, weil die zuvor in vielen schwarz-weißen Szenen unsicheren Schiedsrichter genau hingeschaut hatten: Der Niederländer stand im Kreis, kein Tor, Abpfiff - Jubeltraube der Weißen aus Kiel. "Das war ein hartes Stück Arbeit", befand das vor Schweiß triefende THW-Rückraum-Ass Eric Johansson. "Es war kein schönes Spiel, aber unsere Abwehr hat das überragend gemacht. Im Angriff waren wir nicht so erfolgreich, aber wir haben gekämpft, immer an uns geglaubt, einfach weitergemacht und letztlich Erfolg gehabt."
Überragender Andreas Wolff
Johansson traf fünfmal für die Zebras, wurde nur übertroffen von Emil Madsen, der sechsmal erfolgreich war. Für die Gastgeber war ausgerechnet Unglücksrabe Niels Versteijnen mit neun Toren bester Werfer. Die überragenden Akteure beider Mannschaften aber standen zwischen den Pfosten: Lemgos Österreicher Constantin Möstl hielt 17 Bälle auf, darunter auch den Siebenmeter kurz vor dem Ende von THW-Linkshänder Bence Imre. Auf der anderen Seite durchkreuzte Andreas Wolff die TBV-Ambitionen mit insgesamt 13 großartigen Paraden, einmal auch von der Siebenmeterlinie. Vor allem aber war Kiels Schlussmann zur Stelle, als es auf die Entscheidung zuging, Wolff hatte immer irgendeinen Körperteil am Ball, wenn Lemgo vor dem Ausgleich stand. Hart traf es vor allem Jarnes Faust. Der junge TBV-Rechtsaußen, vor Saisonbeginn aus Kiel nach Ostwestfalen gewechselt, scheiterte dreimal in Folge am Nationaltorhüter, wurde schließlich entnervt ausgewechselt. Er musste dann zusehen, wie sein Rechtsaußen-Kollege Frederik Puls ebenfalls zweimal an Wolff verzweifelte.
Beide Teams mit personellen Sorgen
THW-Trainer Filip Jicha musste erneut drei Stammkräfte ersetzen: Nikola Bilyk (Oberschenkel), Hendrik Pekeler (Sehnenriss Daumen) und Harald Reinkind (Ferse, Ellenbogen) waren nur Zaungäste an den Fernsehgeräten. Doch auch TBV-Trainer Florian Kehrmann hatte personelle Sorgen, Mittelmann Tim Suton und Rechtsaußen Bobby Schagen konnten nicht mitwirken. Die ersten Minuten zwischen den Handball-Traditionsklubs standen ganz im Zeichen starker Abwehrreihen: Der THW stellte gegen die oft mit sieben Spielern angreifende TBV-Mannschaft eine kompromisslose 6:0-Deckung, ließ die ersten TBV-Angriffe ins Leere laufen. Vorne blieben die Zebras zunächst aber ebenfalls erfolglos. Madsen scheiterte an Schlussmann Möstl, außerdem produzierten die Kieler technische Fehler. Erst die dritte Kieler Angriffswelle traf ins Ziel, Peter Överby verwandelte das Anspiel von Kapitän Domagoj Duvnjak zur Kieler 1:0-Führung, die Zehnder wenig per Siebenmeter egalisierte.
Kieler übernehmen nach einer Viertelstunde das Ruder
Ein knallharter Strafwurf übrigens, der nur knapp den Kopf von THW-Torhüter Wolff verfehlte. Zehnder brachte die Gastgeber dann auch in Führung - nach ungeahndetem Foulspiel an THW-Angreifer Johansson. Kiels Bank protestierte, das Schiedsrichtergespann aber winkte wie im späteren Verlauf noch häufiger ab. "Dule" Duvnjak antwortete mit einem Unterarm-Kracher zum 2:2, und auch Emil Madsen war nun erfolgreich. Als Zehnder erneut an die Siebenmeterlinie schritt, den Ball zum 7:6 für die Gastgeber über die Linie brachte, feierte der TBV-Anhang zugleich die letzte Führung seines Teams. In der Folge drosch Johansson den Ball zum 7:7 in die Maschen, Lukas Zerbe erzielte an ehemaliger Wirkungsstätte eiskalt und routiniert das 8:7 für Kiel: Es war die erste THW-Führung. Versteijnen glich noch einmal aus, doch dann nahm der THW-Express Fahrt auf. Johansson traf, Zerbe netzte nach tollem Madsen-Pass ein, und nachdem Wolff TBV-Linksaußen Zehnder mit gehaltenem Strafwurf düpierte, nutzte Madsen diesen Rückenwind zur ersten Kieler Drei-Tore-Führung. 11:8 leuchtete nach 24 Minuten auf dem Videowürfel.
THW bleibt dank starker Defensive vorn
Madsens Torhunger verdankten die Zebras auch den zwischenzeitlichen 14:11-Vorsprung, der bis zum Halbzeitpfiff aber auf 14:13 schrumpfte. Auch, weil erneut der Schiedsrichterpfiff bei Fouls gegen THW-Spieler ausblieb. Nachdem Duvnjak vor seinem Wurf klar und siebenmeterwürdig gefoult worden war, das aber erneut nicht geahndet wurde, wurde Filip Jicha laut und kassierte prompt eine Zeitstrafe. Trotz Unterzahl setzte Johansson das erste Kieler Ausrufezeichen in der zweiten Hälfte, erzielte nach sehenswertem Solo per Aufsetzer das 15:13. Wenig später war er in Zeitnot mit einem Hammer unter die Torlatte zum 16:14 erneut erfolgreich. Lemgo wehrte sich, fand aber keine Mittel gegen den hervorragend vorbereiteten Kieler Abwehr-Beton mit Patrick Wiencek/Petter Överby im Mittelblock, Magnus Landin und Duvnjak auf den Halbpositionen und (natürlich) Wolff im Kieler Tor. Kiels Defensiv-Kraft sorgte stets für eine knappe Führung, vorne allerdings bissen sich die THW-Angreifer mehr und mehr die Zähne an Möstl aus. Hutecek nutzte seine Chance zum 19:18-Anschluss, und als Möstl grandios gegen Emil Madsen parierte, kochte die Lemgoer Arena, die TBV-Fans hofften auf den Ausgleich.
Kampf auf Biegen und Brechen
Sie hatten ihre Rechnung ohne Wolff gemacht: Der Kieler Schlussmann war zur Stelle, Wiencek traf überlegt ins leere Lemgoer Tor: 20:18. Als Filip Jicha dann Elias Ellefsen á Skipagötu ins Rennen warf, der Färinger neue Ideen ins THW-Angriffsspiel brachte, zweimal selbst traf und den THW in der 50. Minute auf 22:19 enteilen ließ, schien eine Vorentscheidung gefallen. Doch Lemgo kämpfte sich zurück, stand in der 54. Minute beim 21:22 erneut vor dem Ausgleich. Aber Pustekuchen: "Dule" spekulierte, der Ballklau gelang, Kiel lag 23:21 vorn. Aber die Freude war nur von kurzer Dauer: Versteijnen scheiterte mit seinem Siebenmeter zwar an Tomas Mrkva und der Torlatte, netzte den Abpraller in der 55. Minute aber zum 23:22 ein.
Torarme letzte Minuten dank starker Keeper
Es war bereits der Endstand, die verbleibenden viereinhalb Minuten waren aber mit Sicherheit trotzdem nichts für schwache Nerven: Die Minuten bis zum Schlusspfiff standen total im Zeichen extrem starker Torhüterleistungen. Möstl parierte den ersten und einzigen (!) Siebenmeter der Kieler. Wolff rettete mit einem Hechtsprung vor einem Gegentreffer ins leere THW-Tor, war dann gegen den frei vor ihm auftauchenden Puls erneut zur Stelle. Die letzte Minute geriet zum schließlich zum totalen Nervenspiel. Die Kieler hatten die besseren, spielten ihren Angriff souverän aus, bekamen elf Sekunden vor dem Ende bei Zeitnot noch einen Einwurf zugesprochen. Emil Madsen wurde nach Selbstärger über einen Pass für zwei Minuten wegen Meckerns auf die Bank geschickt, Filip Jicha nahm die letzte Auszeit. Nach dieser musste Kiel abschließen, Lemgo kam noch einmal in den Ballbesitz. Der Rest ist Geschichte: Die Zebras jubelten, die weihnachtliche Rückreise wurde zum Freudenfest - belohnt durch extrem wichtige Punkte für eine THW-Mannschaft, die einen überragenden Dezember gespielt, sich selbst und ihre Fans großartig beschenkt hatte.
Weiter geht's im neuen Jahr
Nach dem Spiel trennten sich die Wege der Zebras: Für einen Großteil der Zebraherde beginnt nach insgesamt 50 Pflichtspielen allein mit dem THW Kiel im Jahr 2024 nun der kurze Urlaub, bevor ab Anfang Januar die Nationaltrainer zur Vorbereitung auf die Handball-Weltmeisterschaft (14. Januar bis 2. Februar) rufen. Diejenigen, die nicht bei der WM in Kroatien, Dänemark und Norwegen im Einsatz sind, können bis Mitte Januar durchschnaufen, ehe in Altenholz die harte Vorbereitung auf die Rückrunde startet. Das nächste Pflichtspiel der Kieler ist gleich ein echtes Top-Spiel: Wie schon in der Vorsaison trifft der THW Kiel direkt nach dem Turnier am 8. Februar in der Wunderino Arena auf den SC Magdeburg. Für das Spiel gibt’s nur noch wenige Tickets, für die darauffolgenden Heimspiele gegen den FC Porto in der European League (18. Februar) und den HC Erlangen (20. Februar) sind hingegen noch Karten erhältlich. Guten Rutsch in ein hoffentlich erfolgreiches Jahr 2024!
Text: Reimer Plöhn / Fotos: Marco Wolf
DAIKIN Handball-Bundesliga, 17. Spieltag: TBV Lemgo Lippe - THW Kiel: 22:23 (13:14)
TBV Lemgo Lippe: Möstl (1.-60., 17 Paraden), Kastelic (n.e.); Hutecek (2), Theilinger, Zehnder (4/2), Brosch (1), Battermann, Simak (1), Carstensen, Versteijnen (9/3), Wagner (2), Houtepen, Faust (2), Puls, Petrovsky (1); Trainer: Kehrmann
THW Kiel: Mrkva (3 Siebenmeter, 2/2 Paraden), Wolff (1.-60., 13/1 Paraden); Duvnjak (4), Landin (1), Överby (1), Wiencek (2), Pabst (n.e.), Johansson (5), Dahmke, Zerbe (2), Kutz (n.e.), Madsen (6), á Skipagötu (2), Imre; Trainer: Jicha
Schiedsrichter: Hanspeter Brodbeck / Simon Reich
Zeitstrafen: TBV: 0 / THW: (4 Zerbe (4.), Wiencek (13.), Bank (30.), Madsen (60.))
Siebenmeter: TBV: 8/5 (Wolff hält Zehnder (23.), Mrkva hält 2x Versteijnen (49., 55.)) / THW: 1/0 (Möstl hält Imre (55.))
Spielfilm: 0:1, 2:1 (5.), 4:3, 7:6 (16.), 7:8 (18.), 8:11 (24.), 11:14 (27.), 13:14;
2. Hz: 13:15, 15:17 (35.), 17:19 (41.), 18:21 (47.) 19:22 (49.), 21:22 (53.), 22:23 (55.).
Zuschauer: 4520 (ausverkauft) (Phoenix Contact Arena, Lemgo)
Stimmen zum Spiel:
THW-Trainer Filip Jicha: Hier in Lemgo zu bestehen, ist eine große Aufgabe. Wir wussten, dass wir nicht viele Angriffe zur Verfügung haben werden und dass wir deshalb in Angriff und Abwehr eine gute Quote benötigen. Im letzten Spiel hatten wir 20 Tore zur Pause, heute waren es 23 nach 60 Minuten. Ich bin seht stolz darauf, wie die Jungs das adaptieren konnten. Das war nicht einfach, auch angesichts unserer andauernden personellen Sorgen. Aber wenn einer wie Emil Madsen, der sich im Training vor dem Eisenach-Spiel die Nase gebrochen und trotzdem sechs Spiele auf die Zähne gebissen hat, oder wie Rune Dahmke, der sich direkt vor dem Einlaufen erbrochen hat, sich trotzdem in den Dienst der Mannschaft stellen, zeichnet das unser Team aus. Und nur so konnten wir heute hier zwei schöne Punkte holen. Ich bin froh, dass nun erst einmal Pause ist. Erholt Euch gut!
TBV-Trainer Florian Kehrmann: Wir haben heute zwei Mannschaften gesehen, in denen es im Team stimmt. Auch wir haben mit personellen Sorgen zu kämpfen, haben es trotzdem wie Kiel auf den Punkt hinbekommen, Spiele noch zu gewinnen. Heute hat die Halle unglaublich funktioniert, und wir haben sie angezündet. Aber in der Phaser rund um die 39., 40. Minute, in der wir das Spiel hätten drehen können, schaffen wir es nicht, Tore zu machen. Kiel hat das Spiel kontrolliert, und gerade dann ist man darauf angewiesen, dass alles funktioniert. Am Ende stehen wir im Kreis, und bei Kiel steht Andreas Wolff, bei uns Constantin Möstl im Tor. Kiel hat sich den Sieg verdient, am Ende entscheidet solch eine Partie aber auch mal das Glück.
THW-Rechtsaußen Lukas Zerbe: Das war schon ein spezielles Spiel für mich, zum ersten Mal in die Gäste-Kabine abbiegen, zum ersten Mal auf der anderen Seite warmmachen. Es war trotzdem schön, wieder zurückzukommen. Meine komplette Familie war in der Halle, und auch die Lemgoer Jungs wiederzusehen, hat Spaß gemacht. Aber wir fahren jetzt mit zwei Punkten nach Hause, das ist sehr, sehr schön. Es war ein enges Spiel, das durchaus auch in die andere Richtung hätte kippen können. Aber ich bin superstolz auf die gesamte Mannschaft. Wie wir in den vergangenen Wochen geackert und zusammengestanden haben, ist stark. Manch einer hat angesichts unserer zehn Siege in Serie gesagt, dass wir doch einfach weiterspielen sollten. Aber es ist vielleicht auch ganz gut, dass wir jetzt eine Pause haben, die Akkus wieder aufladen können. Und dann wollen wir im Februar genauso weitermachen, wie wir jetzt aufgehört haben.
THW-Rückraumspieler Elias Ellefsen á Skipagötu: Wir wussten, dass es heute sehr, sehr schwer werden würde. Lemgo hat eine starke Mannschaft und eine gute Heimhalle. Wir haben im Angriff nicht gut gespielt, aber zwei Punkte waren unser Ziel – und die haben wir. Ausschlaggebend für den Erfolg waren unsere Abwehr und Andreas Wolff.
THW-Rückraumspieler Eric Johansson: Das war ein hartes Stück Arbeit. Wir mussten 60 Minuten kämpfen wie die Schweine. Jetzt sind wir alle angeschlagen, aber natürlich sehr zufrieden mit den Punkten. Wir sind sehr glücklich, dass wir zehn Spiele in Folge gewonnen haben. Wenn wir im Februar wieder starten, wollen wir genau da weitermachen, wo wir heute aufgehört haben.