EM: Deutschland gewinnt Krimi gegen Schweden
Ausgleich nach 18 Minuten
Vor mehreren hundert deutschen Anhängern kam die deutsche Mannschaft zunächst überhaupt nicht ins Spiel: In der Defensive wurde Johan Jakobsson viel zu viel Platz eingeräumt, und im Angriff ließ die schwedische Verteidigung wenig zu. Gut nur, dass Kapitän Weinhold trotz seiner Gehirnerschütterung aus dem Spanien-Spiel wieder dorthin ging, wo es richtig weh tut: Drei Siebenmeter holte der Kieler Linkshänder in der Anfangsphase heraus, die Tobias Reichmann allesamt sicher verwandelte. Trotzdem: Nach acht Minuten war die deutsche Mannschaft schon mit drei Toren im Hintertreffen. Eine erste Wende leitete Andreas Wolff ein: Mit einigen Paraden weckte er seine Vorderleute auf, die nach einem von Rune Dahmkes ingesamt vier Toren beim 10:10 durch Steffen Fäth erstmals wieder ausglich (18.).
Schweden zur Pause mit vier Toren vorn
Eine Zeitstrafe gegen Reichmann und ein Wechselfehler sowie ein stärker werdender Mattias Andersson im schwedischen Tor erstickten die aufkommende Euphorie jedoch im Keim: Mit einem 4:0-Lauf zogen die Skandinavier wieder davon - einzig Wolff hielt seine Farben nun noch im Spiel. So parierte der künftige Kieler Torwart einen Siebenmeter seines künftigen Teamkameraden Niclas Ekberg, der insgesamt vier Mal traf. Dennoch: Nach Lukas Nilssons 16:11 (28.) drohten den Deutschen die EM-Felle wegzuschwimmen. Reichmann und der ansonsten etwas glücklose Christian Dissinger verkürzten noch einmal, mehr als ein 13:17 sprang dabei aber nicht heraus, weil Andersson nach dem Halbzeitpfiff noch einen Siebenmeter von Reichmann hielt.
EM, 2. SPIELTAG, 18.01.16: DEUTSCHLAND - Schweden: 27:26 (13:17)
Mittwoch gegen Slowenien
Aufholjagd beginnt
Rune Dahmke läutete mit dem ersten Angriff nach dem Wiederanpfiff die große Aufholjagd der deutschen Mannschaft ein: Er traf zum 14:17 und holte kurz darauf den Siebenmeter heraus, den Reichmann zum 15:18 verwandelte. Der DHB-Auswahl hatte die Pause sichtlich gut getan: Wie verwandelt kam vor allem die Abwehr aus der Kabine. Dahinter schwang sich Wolff zu einer unglaublichen Form auf und ließ die gegnerischen Angreifer reihenweise verzweifeln. Der von den Fans in Breslau und den rund 250 Anhängern beim Public Viewing im Hauptbahnhof gefeierte Ausgleich fiel bereits nach 5:50 Minuten der zweiten Hälfte: Reichmann jagte nach Weinhold-Pass den Ball in die Maschen. Noch einmal ging Schweden durch Ekberg in Führung - dann regierte nur noch die DHB-Auswahl.
Vier-Tore-Führung - und dann der Krimi
In der 41. Minute war es schließlich der Kapitän, der für die erste Führung sorgte: Steffen Weinhold tankte sich durch die schwedische Abwehr, traf zum 21:20 und legte gleich noch das 22:20 nach. Jetzt lief es bei der deutschen Mannschaft, die in der ersten Viertelstunde der zweiten Halbzeit nur drei schwedische Trefffer zuließ und sich sogar auf 24:20 absetzte (45.). Für erlösenden Jubel war dies jedoch zu früh: Mit einer Reihe technischer Fehler und überhasteten Würfen auf das nun von Appelgren gehütete Tor lud die deutsche Mannschaft ihrerseit die Schweden ein, zurück ins Spiel zu kommen. Nach Weinhold 26:22 (47.) gelang der Sigurdsson-Sieben in den letzten 13 Minuten der Partie nur noch ein Tor - erneut durch Weinhold. Schweden verkürzte hingegen Treffer um Treffer, und als Fynn Lemke zwei Minuten vor dem Ende beim Stand von 27:26 die Vorentscheidung beim Konter weit über das Tor setzte, musste die DHB-Auswahl, bei der Dissinger nach 56 Minuten eine zu harte rote Karte nach Foul an Jakobsson gesehen hatte, noch einmal richtig zittern.
KN: Wolff zieht Schweden den Zahn
Breslau. Unglaublich! Was war denn da in Breslau los? Die deutschen Handballer haben bei der Europameisterschaft in Polen das zweite Gruppenspiel gegen Schweden dank einer wahnsinnigen Leistungssteigerung in der zweiten Halbzeit mit 27:26 (13:17) gewonnen. Die Tür zur Hauptrunde steht weit offen. Im ersten Spiel des Abends in der Gruppe C hatte Slowenien den favorisierten Spaniern ein überraschendes 24:24-Unentschieden abgetrotzt. Es ein Trip an die Grenzen, von Beginn an. Bundestrainer Dagur Sigurdsson schickt seinen Stamm-Rückraum auf das Feld: Steffen Fäth in der Mitte, die Kieler Christian Dissinger (links) und Steffen Weinhold auf den Halbpositionen. Doch der schwedische Rekord-Europameister (1994, 1998, 2000, 2002) agiert in einer robusten 6:0-Deckung. Die Deutschen kommen schlecht in die Würfe, das Aufbauspiel mutet pomadig, statisch an. Dissinger muss nach drei Fehlversuchen vom Feld, es ist kaum ein Durchkommen. Auch weil Tobias Karlsson - ist er der beste Abwehrspieler der Welt? - die Abwehr der "Tre Kronor" führt wie ein Dirigent sein Orchester. Wenn die feinen Spitzen auf den Halbpositionen nicht fruchten, lässt Karlsson die groben Pauken aufbrausen. Bis zum 6:8 (11.) bekommt Deutschland vier Siebenmeter zugesprochen, Tobias Reichmann zeigt sich nervenstark. Dann wiederholt sich die noch so junge EM-Geschichte. Waren es im Spiel gegen Spanien verflixte sieben Minuten, die dem deutschen Nationalteam das Genick brachen, sind es jetzt immerhin fünf, die Schweden auf 14:10 davonziehen lassen (23.). Einfache Fehler, schlechte Entscheidungen, es ist ein Trip an die Grenzen. Solche, die der magische Mattias Andersson setzt. Rune Dahmke scheitert bis zur 27. Minute gleich dreimal in Folge. Und auf der anderen Seite? Carsten Lichtlein enttäuscht schon wieder. Dann ist er da: Andreas Wolff kommt auf das Feld (10.), kommt besser ins Spiel. Ganz anders als Christian Dissinger, als Steffen Weinhold, der trotz Gehirnerschütterung spielt. Die defensive Deckung versinkt in Ratlosigkeit, muss tatenlos den Treffern vom halbrechten Flensburger Johan Jakobsson zusehen. Der blutjunge Rückraum mit Jesper Konradsson (Jahrgang 1994), Viktor Östlund (1992) und später Lukas Nilsson (1996), dessen Transfer zum THW Kiel - laut schwedischen Medien schon in diesem Sommer - nach Informationen unserer Zeitung heute bekannt gegeben werden soll, zieht sein Ding durch. Niclas Pieczkowski kommt auf der Mitte, dann Fabian Wiede, Martin Strobel. Sigurdsson muss sein ganzes Repertoire ausschöpfen. Mit einer 17:13-Führung gehen die Schweden in die Kabine, die blau-gelben Fans in der fast vollen Jahrhunderthalle von Breslau flippen aus. Und was passiert dann in der Kabine? Die zweiten 30 Minuten zeigen das zweite Gesicht der deutschen Mannschaft. Als hätten sich alle nur einmal kräftig geschüttelt, kommt Kapitän Steffen Weinhold, der Leader, zurück, trifft viermal in kurzer Zeit, kurbelt an. Jetzt gibt er den Ton vor. Er macht die erste Führung (21:20; 41.), bis zum 24:20 (45.) gelingt den Schweden nicht mehr viel. Deutschland bringt den Gegner vollkommen aus dem Konzept, stellt auf eine 4:2-Deckung mit offensiven Außen um: der überragend auftretende Tobias Reichmann rechts, der starke Rune Dahmke links. Und der Held des Abends? Andreas Wolff. Es könnte die EM des 24-Jährigen werden, der jetzt Paraden wie Fließbandware abliefert. Gegen Niclas Ekberg (36.), gegen Lukas Nilsson (49.), dem er auch den vielleicht entscheidenden Ball abkauft (58.), als die Partie nach einer Roten Karte gegen Christian Dissinger doch zu kippen droht, Finn Lemke einen Gegenstoß, den vermeintlich entscheidenden Ball, weit über das Tor drischt. Doch der Wolff hetzt die Schweden, raubt ihnen den Nerv. Unglaublich! Deutschland ist zurück im Turnier. (Von Tamo Schwarz, aus den Kieler Nachrichten vom 19.01.2016)
KN: Stimmen zum Spiel
Dagur Sigurdsson, Bundestrainer: Das war ein heißes Spiel, die Jungs haben großartig gekämpft und Mut gezeigt. Ich bin erleichtert und stolz, werde jetzt aber nicht den Taschenrechner herausholen. Dieser Sieg soll positiv wirken, und wir wollen Slowenien jetzt auch schlagen. Andreas Wolff war einfach stark. Steffen Weinhold, Kapitän: Dass wir dieses Spiel gekippt haben, ist wichtig für das Selbstvertrauen. Das war eine echte Charakterleistung. Aber darauf können wir uns nicht immer verlassen, müssen diesen Charakter von Anfang zeigen. Rune Dahmke, Linksaußen: Unsere Umstellung auf die 4:2-Deckung hat die Schweden durcheinander gebracht. Jeder hat heute noch einmal fünf bis zehn Prozent draufgelegt. Bob Hanning, DHB-Vizepräsident: Ich habe in der Halbzeitpause in der Kabine gespürt, dass die Mannschaft dieses Spiel drehen will. Es war toll zu sehen, wie Steffen Weinhold danach noch mehr Verantwortung an sich gerissen, die Mannschaft als Leader geführt hat. Tobias Karlsson, schwedischer Abwehrchef: Die offensive Deckung der Deutschen und Andreas Wolff haben uns völlig aus dem Konzept gebracht – und die Deutschen zurück ins Spiel.