Christian Dissinger legt Nationalmannschafts-Pause ein
"Es ist einfach zu viel"
"Möchte starker Teil des THW sein"
KN: Dissinger zieht die Notbremse: Pause im Nationalteam
Kiel. Er ist Europameister, gewann Olympia-Bronze, doch in beiden Turnieren kapitulierte sein Körper. Jetzt ist er Vorreiter, stellt sich mutig der um sich greifenden Überbelastung im Handball. Christian Dissinger, Rückraumspieler des Rekordmeisters THW Kiel, teilte Bundestrainer Dagur Sigurdsson jetzt mit, dass er der Nationalmannschaft in dieser Saison nicht mehr zur Verfügung stehen werde. "70 bis 80 Pflichtspiele, immer Vollgas - es ist einfach alles zu viel geworden", sagt der erst 24-Jährige am Dienstag im Gespräch mit den Kieler Nachrichten. Sigurdsson habe "wenig begeistert, aber sehr verständnisvoll" reagiert. Und Dissinger weiß, was diese Entscheidung für ihn bedeutet, hat lange nachgedacht, es sich nicht leicht gemacht. Er wird die Weltmeisterschaft im Januar in Frankreich verpassen und weiß gleichzeitig nicht einmal, ob er überhaupt eine realistische Chance auf eine Nominierung gehabt hätte. "Es schmerzt trotzdem, das wäre meine erste WM gewesen. Aber es ist fast utopisch, zu denken, dass ich dort eine gute Rolle hätte spielen können." Insgesamt dreimal musste sich Dissinger in Rio und Kiel wegen eines Kompartmentsyndroms operieren lassen, laboriert mit einer 30 Zentimeter langen Narbe am Bein an den Folgen, ist erst ins leichte Lauftraining eingestiegen. Vier bis fünf Wochen wird der Rückraum-Linke noch ausfallen – mindestens. Der Rest: "ungewiss". Zeit zum Nachdenken. 2011 und 2013 riss zweimal Dissingers Kreuzband, bei der EM im Januar folgte eine Adduktorenverletzung, vor den Olympischen Spielen ein Meniskussriss, dann das Aus in Rio de Janeiro. "Von den vergangenen acht Monaten war ich fünf verletzt. Das will ich meinem Körper nicht mehr zumuten." Das sagt ein 24-Jähriger mit gerade einmal 19 Länderspielen. Ein 24-Jähriger, der weiß: "Diese Verletzungen waren zwar auch Pech - aber nach englischen Wochen und überhoher Belastung kamen sie nicht von ungefähr." Eine Belastung, die besonders für die deutschen Klubs in der Champions League mörderisch ist: 34 Spiele in der Bundesliga, dazu Königsklasse (14-20 Spiele), DHB-Pokal (maximal sechs Spiele). Zu den maximal 60 Begegnungen im Verein kommen für die Nationalspieler nach der EM und Olympia in dieser Saison noch die WM, EM-Qualifikation und Test-Länderspiele hinzu, so dass die deutschen Nationalspieler bis zu 80 Matches pro Saison in den Knochen haben. "Es muss sich etwas ändern, das Niveau leidet, Verletzungen nehmen zu", sagt Dissinger. Er will sich auf den THW konzentrieren (sein Vertrag läuft bis 2020), will voll da sein für seinen Klub und die 10 000 in der Arena – "wie es die großen Generationen zuvor getan haben". Ein Satz, der im Gespräch mit Christian Dissinger mehrfach fällt: "Es ist zu viel." Darum habe er - und nur er allein - die Notbremse gezogen. Druck vom THW habe es nicht gegeben. "Ich hätte mich da auch nie eingemischt", sagt Alfred Gislason. "Disse braucht erst einmal Stabilität, dann macht irgendwann auch die Nationalmannschaft wieder Sinn." 80 Spiele pro Saison, das sei, so Gislason, "mörderisch". Der Isländer zieht den Vergleich zur US-Profiliga NBA: "Dort sind es bis zu 100 Spiele, aber viel mehr Regeneration." Dass ein 24-Jähriger eine solche Entscheidung "für seinen Arbeitgeber und seine Gesundheit" treffen müsse, findet THW-Geschäftsführer Thorsten Storm "erschreckend und schade". Aber nicht nur die Nationalmannschaft, sondern der gesamte Spielplan, der Dissinger zu seiner Entscheidung zwinge, sei schuld an der Misere: "Das fängt beim abgelehnten 16. Spieler an und geht über die vielen Spiele bis zur mangelnden Regeneration. Wir stehen voll hinter Christians Entscheidung, denn er ist ein sehr wichtiger Spieler für uns", so Storm. (Von Tamo Schwarz, aus den Kieler Nachrichten vom 21.09.2016)