Nach Sieben-Tore-Rückstand in Melsungen: Abwehr und Bellahcene holen noch einen Punkt

Bundesliga

Nach Sieben-Tore-Rückstand in Melsungen: Abwehr und Bellahcene holen noch einen Punkt

Letzte Ausfahrt der Saison Rothenbach-Halle in Kassel: Für den THW Kiel war am letzten Spieltag der LIQUI MOLY Handball-Bundesliga Punktrunden-Endstation bei der MT Melsungen. Und diese letzten 60 Liga-Minuten der Spielzeit hatten es in sich. Es ging heiß her in Kassel, und die Zebras hatten dabei ihren gewichtigen Anteil an einem Handball-Krimi erster Güte. Nach einem zwischenzeitlichen Sieben-Tore-Rückstand kämpften sich die Kieler mit einer grandiosen Abwehr und einem bärenstarken Samir Bellahcene im Tor, der allein drei Siebenmeter der Gastgeber unschädlich machte. zurück in die Partie. Mit dem hochverdienten 23:23 (11:16)-Remis belohnten sich die Zebras für ihre Arbeit im zweiten Durchgang zumindest mit einem Punkt.

Beide Torhüter überragen

Den Titel als beste THW-Torschützen der Partie teilten sich Nikola Bilyk und Elias Ellefsen á Skipagötu, die beide jeweils fünfmal ins Melsunger Tor trafen. Der 22 Jahre alte Färinger spielte im zweiten Durchgang im rechten Rückraum und bildete mit dem 19-jährigen Jarnes Faust eine der jüngsten rechten Seiten in der Geschichte der Zebras. Die erste Halbzeit dominierten allerdings die Gastgeber, die in Timo Kastening ihren erfolgreichsten Werfer hatten. Der Nationalmannschafts-Rechtsaußen netzte neunmal ein, fand aber auch mehrmals in Bellahcene seinen Meister. Überhaupt waren die Torhüter die überragenden Akteure der Partie: MT-Keeper Nebosja Simic brachte es auf 17 Paraden, übertroffen wurde er aber trotzde, von Samir Bellahcene. Der Franzose im Kieler Tor hielt 14 schwere Bälle auf, meisterte drei Siebenmeter und war mit seinen Paraden maßgeblich an der Kieler Aufholjagd nach dem Seitenwechsel beteiligt. 

Zwei unterschiedliche Halbzeiten

Die Kieler spielten zwei extrem unterschiedliche Halbzeiten, lagen nach durchwachsenen ersten 30 Minuten mit 11:16 Toren zurück, um in der zweiten Halbzeit nur noch sieben Melsunger Tore zuzulassen. Eine Abwehrleistung mit höchster Intensität und Konzentration, die das Spiel in der zweiten Hälfte kippen ließ. THW-Trainer Filip Jicha setzte zu Beginn auf die Rückraumreihe Eric Johansson, Elias Ellefsen á Skipagötu und Harald Reinkind auf Halbrechts. Im Tor stand vom Start an Samir Bellahcene, der beim Sieg über Leipzig eine starke Leistung geboten hatte, in Kassel direkt daran anschloss. Die Kieler starteten furios, legten nach Anspiel von Eric Johansson und Einläufer von Niclas Ekberg die 1:0-Führung vor. Im Gegenzug kassierte Patrick Wiencek sofort die erste Zeitstrafe der Partie, den anschließenden Strafwurf verwandelte Timo Kastening zum Ausgleich.

Simic lässt guten Kieler Start verpuffen

Reinkind, Patrick Wiencek und Magnus Landin scheiterten dann jedoch jeweils frei an MT-Keeper Nebosja Simic. Die Folge: Melsungen legte auf 4:2 vor, "Skippy" und Eric Johansson konterten mit ihren Treffern zum 4:4. Das 4:5 durch Kastening egalisierte der Färinger á Skipagötu mit einem "Pfund" in den Winkel zum 5:5. Es sollte der letzte Kieler Treffer für die nächsten fünf Minuten sein, in denen es weiterhin in höchstem Tempo hin und her ging. Allerdings ließen die Zebras gute Chancen ungenutzt, Niclas Ekberg scheiterte zweimal am Lattenholz, technische Fehler kamen hinzu. Melsungen bestrafte Kiels Torflaute umgehend, mit seinem fünften Treffer brachte Kastening seine Farben in der 17. Minute mit 9:5 in Front, ehe Nikola Bilyk das Spielgerät zum 6:9 in die MT-Maschen wuchtete. 

Zebra-Aufholjagd startet noch in Durchgang eins

Samir Bellahcene avancierte jetzt nach und nach zum besten THW-Spieler, konnte den 1:7-Negativlauf der Zebras aber ebenso wenig verhindern wie den hohen 8:15-Rückstand nach 28 Minuten. Zuvor hatten alle Schwarz-Weißen weiter munter am Fahrkartenschalter gezogen, Simic hatte sich nachdrücklich in den Köpfen der Zebras festgesetzt. Doch die starteten ihre Aufholjagd noch in den Schlussminuten der ersten Hälfte: á Skipagötu traf zum 10:16, Bellahcene entschärfte einen Wurf von Aho, und Johansson sorgte schließlich für den 11:16-Pausenstand. Dieser ließ für die zweite Hälfte zumindest noch ein paar Optionen offen. "Vorne haben wir viel zu viele Fehler gemacht, außerdem hinten nicht kompakt genug gestanden. Das muss sich ändern“, forderte Patrick Wiencek vor dem Gang in die Kabine am Dyn-Mikrofon. 

THW legt im zweiten Durchgang den Turbo ein

Und tatsächlich präsentierten sich die Zebras in den zweiten 30 Minuten deutlich aggressiver, errichteten einen Abwehr-Sperrgürtel, der Melsungens Angreifer immer wieder aufhielt. Die Defensive formte eine "weiße Wand", die die MT zunehmend vor Aufgaben stellte. Bellahcenes Paraden taten ein Übriges, die Kieler tasteten sich Tor um Tor heran. Youngster Jarnes Faust und Hendrik Pekeler verkürzter gleich nach dem Wechsel auf 13:16, ehe dem Kieler Vorwärtsdrang durch das schwache Schiedsrichterduo Thyiagarajah gestoppt wurde: Kastening räumte beim Wurf den sogar noch zurückziehenden Rune Dahmke ab, statt Ballbesitz für Kiel gab es aber einen Siebenmeter für Melsungen und zwei Minuten für Dahmke. Nur eine der haarsträubenden Entscheidungen der beiden Schiedsrichter, deren unterschiedliche Bewertungsskala sich auch in der Anzahl der Strafwürfe widerspiegelte: Sechs bekam Melsungen zugesprochen, nur ein Siebenmeter wurde für den THW Kiel gepfiffen. 

Zebras sind am Drücker

Doch die Kieler ließen sich auch davon nicht beirren. Nach dem Doppelschlag durch den fantastischen Dreher von Bilyk und Petter Överbys Treffer ins leere MT-Tor waren die Zebras beim 16:18 in der 37. Minute zurück im Spiel, MT-Trainer Parrondo reagierte mit einer Auszeit. Die MT wehrte sich: 2,15-Riese Kristopans nagelte den Ball zum 19:16 in die THW-Maschen, die Fans in der Rothenbach-Arena - mit dabei auch rund 80 lautstarke THW-Anhänger - hielt es kaum noch auf ihren Sitzen. Die THW-Abwehr wurde zum Mittelpunkt des Geschehens, doch auch MT-Torhüter Simic ließ nicht locker, sorgte mit Glanzparaden gegen Bilyk, Faust und den gehaltenen Siebenmeter von  Johansson weiterhin für die knappe MT-Führung.

Krimi in der Schlussphase

Jicha drückte in der 45. Minute auf den Buzzer, stimmte seine Angreifer auf den Schlussspurt ein. Es wirkte. Bilyk traf zweimal, selbst die Zeitstrafe gegen Pekeler hielt den Kieler Vorwärtsdrang nicht auf. Faust netzte in Unterzahl per Tempogegenstoß ein, Dule schnappte sich einen Ball und leitete diesen an Elias Ellefsen á Skipagötu weiter: Der blieb eiskalt, traf per Tempogegenstoß erst zum Ausgleich und mit einem Unterarmwurf von Halbrechts zum 22:21. In der 53. Minute hatten sich die Kieler die Führung zurückgeholt. Die Schlussphase war dann nichts für schwache Nerven. Martinovic glich zum 22:22 (54.) aus, verwarf dann einen eh mehr als fragwürdigen Siebenmeter. Dann traf Bilyk zwei Minuten vor dem Schlusspfiff zum 23:22, im Gegenzug war es Aho, der egalisierte.

Bellahcene hält Punkt fest

Die Zebras hatten jetzt Ballbesitz, die Chance zum Siegtor. Die Unparteiischen aber pfiffen einen technischen Fehler von Bilyk ab, eine erneut fragwürdige Entscheidung. Der Krimi tastete sich in die Schlusssekunden, mit Ballbesitz für Melsungen. Kristopans warf übers THW-Tor, Abpfiff. Abpfiff? Die Zebras freuten sich über den Punkt, doch die Schiedsrichter hatten noch ein Foulspiel gesehen, entschieden nach Videobeweis auf Zeitstrafe gegen Hendrik Pekeler und einen letzten Freiwurf für Melsungen. Kristopans versuchte es erneut gegen die THW-Mauer, dieses Mal mit einem Seitfallwurf. Doch abermals fand der 2,15-Meter-Mann seinen Meister in Samir Bellahcene. 

Saison-Höhepunkt am kommenden Wochenende

Die LIQUI MOLY Handball-Bundesliga-Saison 2023/2024 ist Geschichte, auf Rang vier und mit der Qualifikation für die EHF European League in der Tasche beendete der Titelverteidiger aus Kiel diese schwierige Spielzeit. Für die Zebras steht der Saison-Höhepunkt aber noch bevor: Im Halbfinale des TruckScout24 EHF Final4 2024 treffen die Zebras am Samstag um 18 Uhr (live bei Dyn, DAZN und DF1 sowie beim Public Viewing in der Forstbaumschule) auf den FC Barcelona. "Wir reisen als Underdog nach Köln", sagt Patrick Wiencek, "aber wir wollen diese Rolle mit viel Leben füllen." Weiter geht’s in Köln, Kiel!

Text: Reimer Plöhn / Fotos: MT/Alibek Käseler

LIQUI MOLY Handball-Bundesliga, 34. Spieltag: MT Melsungen – THW Kiel 23:23 (16:11)

MT Melsungen: Morawski (n.e.), Simic (1.-60., 17/1 Paraden); Kühn (2), Balenciaga (2), Sipos, Kristopans (3), Ignatow, Moraes (5), Ohl, Drosten, Waldgenbach, Wolf, Aho (1), Hörr, Martinovic (1), Kastening (9/3; Trainer: Parrondo
THW Kiel: Mrkva (1 Siebenmeter, keine Parade), Bellahcene (1.-60., 14/3 Paraden); Duvnjak (1), Reinkind, Landin (2), Øverby (1), Weinhold, Wiencek, Ekberg (2), Faust (2), Johansson (3), Dahmke, Wallinius, Bilyk (5), Pekeler (2), á Skipagötu (5); Trainer: Jicha

Schiedsrichter: Ramesh Thyiagarajah / Suresh Thyiagarajah
Siebenmeter: MT: 6/2 (Bellahcene hält 2x  Kastening (10., 41.), Martinovic drüber (54.), Bellahcene hält Ignatow (57.))  / THW: 1/0 (Simic hält Johansson (40.))
Zeitstrafen: MT: 3 (2x Aho (25., 30.), Sipos (37.)) / THW: 4 (Wiencek (1.), Dahmke (33.), 2x Pekeler (47., 60.))
Spielfilm: 0:1, 1:2 (2.), 4:2 (5.),4:4 (10.), 5:5, 9:5 (17.), 9:6, 12:6 (23.), 12:8 (25.), 15:8 (28.), 16:9 (29.), 16:11;
2. Hz.: 16:13 (32.), 18:14, 18:16 (37.), 19:17, 21:18 (45.), 21:22 (53.), 22:23 (58.), 23.23 (59.).
Zuschauer: 4491 (Rothenbach-Halle, Kassel)

Stimmen zum Spiel: 

THW-Trainer Filip Jicha: Wir waren verantwortlich für den hohen Pausenrückstand, haben keine gute Leistung gezeigt. Wir waren zum wiederholten Mal nicht effektiv beim Wurf, waren im Eins-gegen-Eins nicht bereit. Ich habe den Jungs gesagt, dass derjenige das Spiel gewinnt, der den größeren Willen hat. In der Halbzeit habe ich sie daran erinnert, dass wir in der Lage sind, solch einen Rückstand aufzuholen. Wie wir dann aufgetreten sind, mit Elias und Jarnes auf der sehr jungen rechten Seite, hat mir gefallen. Skippy hat das Herz in die Hand genommen, Dule hat Struktur in das Spiel gebracht. Wir haben zwar auch Fehler gemacht im zweiten Durchgang, aber der Umgang mit dieser Situation war gut.

THW-Kapitän Domagoj Duvnjak bei Dyn: Dieses Spiel hat sehr viel Kraft gekostet. Melsungen hat in der ersten Halbzeit besser gespielt, wir in der zweiten – das Unentschieden geht also in Ordnung. In der zweiten Halbzeit waren wir beweglicher in der Abwehr und haben auch vorn konsequenter gespielt. Und natürlich war Samir überragend. Ich hoffe, dass Tomi, Samir und wir alle ein tolles Final4 haben werden. Wir fahren jetzt zurück, und morgen beginnt die Vorbereitung auf Barcelona. Ich freue mich, wie jeder in unserer Mannschaft, auf dieses riesige Event in Köln.

MT-Außen Timo Kastening bei Dyn: Das war ein klassisches letztes Spiel, in dem es nicht mehr um das Klassement geht. Beide Teams kommen schwer rein, auf einmal waren wir vorn. Kiel ist dann zurückgekommen, und Simic hat uns im Spiel gehalten. Verdientes Unentschieden.

MT-Rückraumspieler Ivan Martinovic bei Dyn: Ich freue mich, dass wir fast ungeschlagen zu Hause die Saison beendet haben. Ansonsten war dieses letzte Spiel für die MT sehr emotional für mich.

THW-Rechtsaußen Niclas Ekberg: In der zweiten Halbzeit haben wir gezeigt, was wir draufhaben. Uns im letzten Spiel der Liga-Saison mit unseren müden Körpern so zurück zu kämpfen, war stark. Es hat zwar leider nicht zum Sieg, gereicht, aber das Unentschieden geht in Ordnung.