KN: Die 20-Tore-Botschaft
Kiel. Wenn Alfred Gislason in seinen Memoiren irgendwann die Seite mit seinem 600. Pflichtspiel für den THW Kiel aufschlägt, wird dort zu lesen sein: Handball-Bundesliga, furioser Abend, Torfestival, Kantersieg, Rückkehr in die Champions League, 39:19 (siehe auch THW-Spielbericht) gegen GWD Minden, Trainer entspannt, meist sitzend. Das Ende der Geschichte ist allerdings noch offen.
Alfred Gislason absolvierte gegen Minden sein 600. Pflichtspiel als Trainer des THW Kiel
Denn es muss sich erst zeigen, auf welchen Boden diese Kieler 20-Tore-Botschaft im Titelrennen bei der SG Flensburg-Handewitt fällt. Hausaufgaben gemacht, Job erledigt, Tordifferenz fantastisch aufpoliert - der Druck auf die SG bleibt konstant hoch. Dabei sieht es für ein paar Minuten so aus, als würden ohne Routinier Dalibor Doder (Muskelverhärtung) angetretene Mindener gute Lösungen finden gegen die Kieler 3:2:1-Deckung mit Domagoj Duvnjak an der Spitze. Da taucht zweimal Magnus Gullerud frei am Kreis auf (2:2/7.), vollstreckt Max Staar per Tempogegenstoß (5:4/11.), ehe THW-Torwart Andreas Wolff anfängt, diesen Abend mit allen Poren auszukosten und da weiterzumachen, wo er im Finale um den EHF-Cup aufgehört hatte.
Zuerst ist der deutsche Nationaltorhüter einfach nur zur Stelle, entnervt Christoffer Rambo zum dritten, vierten Mal. Zu harmlos war ein Rambo nie. Zweimal schlägt’s im leeren GWD-Gehäuse ein (8:4/13.), nach einer Viertelstunde bringt es der Kieler Käpt’n Duvnjak auf drei Tore und zwei Assists, hat den Kurs vorgegeben. "Technische Fehler, schlechte Würfe - das hat uns im Kopf runtergezogen", sagt Ex-Zebra Kim Sonne, der zwischen den Pfosten der Gäste Schlimmeres verhindert. Sein Trainer Frank Carstens setzt noch einen drauf, attestiert seinen Spielern "miese Würfe". 14 sind es bis zur Pause, die ihr Ziel verfehlen, aber auch zehn beim THW. Gegenstoß Duvnjak (16.), Gegenstoß Dahmke (18.), Gegenstoß Dahmke (25.) - Sonne hält! Mit dem 19:9-Pausenstand ist der Traditionsklub fast noch gut bedient.
Nikola Bilyk fehlt (Hexenschuss), Rechtsaußen Niclas Ekberg (Fuß) wird von Ole Rahmel ausgezeichnet vertreten. Leistungsabfall in Halbzeit zwei? Fehlanzeige! 19-Paraden-Mann Wolff bleibt ein (nahezu) unüberwindbares Hindernis. Eine Eigenschaft, die er mit seinen Weltklasse-Innenblock-Vorderleuten Patrick Wiencek und Hendrik Pekeler in der jetzt auf 6:0 umformierten Deckung gemein hat. Vorne glänzt Lukas Nilsson mit 103-km/h-Granaten und Schlagwurf oder stiehlt sich seine Bälle gleich selbst, um sie vorne zu verwandeln. Neunmal trifft der Schwede. Der THW im Rausch: Zickzack über "Bande" landet der Ball via Pekeler bei Rahmel (30:10/41.), trostlos, wie GWD bis zum 31:10 (42.) seit dem Seitenwechsel wirklich nur ein Tor gelingt. Die Zebras sind hungrig, hungrig, torhungrig. Anders ist nicht zu erklären, wie Patrick Wiencek von Willenskraft getrieben zum 34:11 stürmt (46.), als wäre es die Verlängerung in einem Champions-League-K.o.-Spiel.
37:14 (53.) - 23 Tore Vorsprung, und Alfred Gislason hat sich längst - wirklich wahr! - hingesetzt, verfolgt entspannt das Geschehen, überlässt seinem designierten Nachfolger Filip Jicha das Coaching. Die Gefühlslage auf der Bank der Gäste ist eine andere. "Ich hätte nie gedacht, dass 60 Minuten so lange dauern können. Und ich war froh, als es vorbei war", sagt GWD-Geschäftsführer Frank von Behren. Diese Demütigung ist für die Gäste schwer verdaulich. Daran kann auch der Schlendrian nichts ändern, mit dem die Zebras in den letzten Minuten einen noch viel höheren Sieg aus der Hand geben.
"Jetzt müssen meine Spieler noch für zwei weitere Partien so fokussiert bleiben", sagt Alfred Gislason und blickt auf die verbleibenden Spieltage Nummer 33 und 34 voraus. Letzte Zweifel haben seine Spieler am Sonntagnachmittag zerstreut.
 Die Bundesliga-Saison 2019/2020 nimmt Form an. Zwei Spieltage vor dem Saisonende in der Zweiten Liga stehen HBW Balingen-Weilstetten und die HSG Nordhorn-Lingen als Aufsteiger ins Oberhaus fest.
(Von Tamo Schwarz, aus den Kieler Nachrichten vom 27.05.2019, Foto: Sascha Klahn)
Stimmen zum Spiel aus den Kieler Nachrichten:
Alfred Gislason, THW-Trainer: "Meine Jungs waren extrem fokussiert. Ich bin froh, dass wir gegenüber Flensburg etwas für die Tordifferenz tun konnten. Das war extrem wichtig für uns. Wir wollten unbedingt vor dem letzten Spieltag ein Polster haben. Andi Wolff war heute im Tor überragend. Aber es ist auch kein Spaß, im Innenblock an Hendrik Pekeler und Patrick Wiencek vorbeizukommen."
Frank Carstens, GWD-Trainer: "Wir haben uns hier heute bis auf die Knochen blamiert. Wir sind mit anderen Erwartungen hergekommen und sind dann wie eine Jugendmannschaft aufgetreten. Wobei viele Jugendmannschaften das couragierter gelöst hätten als wir. Wir haben schon den Anspruch, gegen den THW Kiel konkurrenzfähig zu sein. Darum tut diese Niederlage weh, denn das waren wir nicht."
Rune Dahmke, THW-Linksaußen: "Wir hatten uns klar vorgenommen, etwas für die Tordifferenz zu tun. Ich hoffe, dass wir damit ein Zeichen in Richtung Flensburg senden konnten. Tempogegenstöße verwerfe ich sonst eigentlich nie. Kim Sonne hat das zweimal gut gemacht. In der zweiten Halbzeit lief es dann wieder besser. Was zählt, war eh, dass wir insgesamt viele Tore geworfen haben."
Domagoj Duvnjak, THW-Kapitän: "Wenn du zur Pause mit zehn Toren Vorsprung führst, ist es immer schwer, in der zweiten Halbzeit konzentriert zu bleiben. Aber danach war es ein geniales Spiel. Die Abwehr und Andi ( Wolff, d. Red. ) dahinter waren überragend, und am Ende haben wir mit 20 Toren gewonnen. So ein Spiel habe ich schon lange nicht mehr erlebt. Ich bin wirklich glücklich."
Marian Michalczik, GWD-Rückraumspieler: "Das haben wir uns heute ganz anders vorgestellt. Beim THW Kiel gibt es nichts geschenkt. Und wenn man dann nach Kiel fährt und die Bereitschaft in der Mannschaft fehlt, kassiert man schnell mal eine Packung wie wir heute. Ich hoffe, dass wir das nachhaltig in Erinnerung behalten werden. Das war ein deftiger Schlag ins Gesicht."