REWE Final4: Bitteres Halbfinal-Aus für den THW Kiel
Riesenenttäuschung für den THW Kiel und seine Fans: Nach einer grandiosen ersten Halbzeit und einer 18:11-Führung in der Hamburger Barclaycard Arena gegen den TBV Lemgo Lippe lief beim Titelverteidiger in der zweiten Halbzeit nur noch wenig zusammen, während die Ostwestfalen mit ihrer bisher stärksten Saisonleistung auftrumpften und den Favoriten am Ende mit 29:28 in die Knie zwangen. Erstmals seit 2002 wird also der TBV Lemgo am Freitag um den DHB-Pokal kämpfen, während die Kieler gefrustet die frühe Heimreise vom REWE Final4 antreten mussten.
"Probleme hatten wir eindeutig im Angriff"
Bester Kieler Torschütze: Niclas Ekberg
TV-Handball-Experte Stephan Kretzschmar bezeichnete die 60 Minuten von Hamburg als "eines der größten Handball-Wunder der letzten Wochen und Monate - nach diesem Halbzeitstand. Lemgo kann wahnsinnig stolz auf seine Mannschaft sein." THW-Trainer Filip Jicha war sichtlich enttäuscht, und suchte nach einer Erklärung: "Es ist eingetreten, was im Pokal passieren kann", sagte der 39-Jährige, "wenn du nicht 60 Minuten Leistung bringst, dann passiert das. Vielleicht haben wir unbewusst angefangen, mit weniger Energie zu spielen." Die Abwehr sei nicht das Problem gewesen, urteilte Kiels Trainer. "Probleme hatten wir eindeutig im Angriff."
THW startet furios
Niklas Landin ebnete mit seinen Paraden den Weg zur klaren Halbzeitführung
Dabei startete der THW furios in die Partie, goss eine Abwehr aus Beton mit dem agilen Domagoj Duvnjak als Speerspitze der 5:1- und 3-2-1-Deckung und einem extrem starken Niklas Landin als Bollwerk zwischen den Torpfosten. Zudem boten die Zebras in der Offensive Zauberhandball vom Feinsten. Außerdem: Gerade einmal dreieinhalb Wochen nach seinem Wadenbeinbruch saß THW-Kreisläufer Patrick Wiencek wieder auf der Auswechselbank, feierte ab der 20. Minute gar seine ersten Kurzeinsätze für das THW-Team. Lemgos Oldie, Kreisläufer Theuerkauf, erzielte zwar das erste Turniertor, doch zwei Tempogegenstöße von Duvnjak brachten den THW nach fünf Minuten erstmals in Front.
Starke Abwehr und Landin bringen THW nach vorn
Im zweiten Durchgang hatte die Kieler Abwehr nicht mehr genug Zugriff
Bis zum 5:5 in der 13. Minute blieb das Spiel ausgeglichen, der folgende 4:0-Lauf nach Toren von Sander Sagosen, Duvnjak, Niclas Ekberg und des überragenden Hendrik Pekeler bescherte dem Favoriten dann in der 15. Minute eine Vier-Tore-Führung. Und die Kieler drückten dem Spiel weiterhin ihren Stempel auf, suchten und fanden ihre Torchancen vor allem dank einer grandiosen Abwehrleistung und acht Paraden von Niklas Landin in der ersten Halbzeit. Großartig auch die beiden Tore von Mittelmann Miha Zarabec, der beim 13:8 in der 24. Minute die halbe TBV-Abwehr austanzte, außerdem mit großartigen Anspielen auf Hendrik Pekeler glänzte.
Deutliche Pausenführung
Florian Kehrmann versuchte sein Glück jetzt mit dem Sieben gegen Sechs, wurde aber bestraft, weil seinen Offensivkräften viele Fehler unterliefen, So traf Sander Sagosen genau wie später Steffen Weinhold ins leere TBV-Tor. 20 Sekunden vor dem Halbzeitpfiff erzielte Niclas Ekberg mit seinem fünften Treffer den 18:11-Pausenstand.
TBV kommt besser aus der Kabine
Seine Paraden sorgten in der Schlussphase für die Entscheidung: Peter Johannesson
Lemgo spielte angesichts des deutlichen Rückstandes befreit auf und kam viel besser aus der Kabine: Andrej Kogut, Gedeon Guardiola und Jonathan Carlsbogard legten die Ostwestfalen einen 3:0-Lauf hin, den der THW durch Tore von Weinhold, Sven Ehrig und Duvnjak aber sofort konterte. 21:14 hieß es nach 36 Minuten, alles schien für die Schwarz-Weißen zu laufen. Doch dann riss bei den Kielern komplett der Faden, die Lemgoer robbten sich Tor um Tor heran. Die zweite Halbzeit bot plötzlich ein Spiegelbild der ersten, mit umgekehrten Zeichen. Jetzt glänzte Lemgos Abwehrreihe, hatte mit Johannesson zudem einen alles überragenden Schlussmann zwischen den Pfosten. Der Schwede parierte insgesamt zehn schwere Bälle, ein wenig Glück kam für den TBV auch hinzu: Sprangen einige Pfostentreffer der Kieler aus dem Lemgoer heraus, so drehten TBV-Holztreffer an dem unglücklichen Landin vorbei ins THW-Gehäuse rein. Die Lemgoer hatten das Momentum nun deutlich auf ihrer Seite, sie bestraften Kieler Fehler, spielten sich in einen Rausch und holten Tor um Tor auf.
Lemgo gewinnt nach spannender Schlussphase
Riesen-Frust und noch größere Enttäuschung bei den Zebras
Steffen Weinhold brachte den THW in der 52. Minute nach starker Einzelleistung zwar erneut mit drei Toren (27:24) in Front, doch Schagen, Bajens und Elison per Siebenmeter sorgten in der 54. Minute für den erstmaligen Lemgoer Gleichstand in der zweiten Halbzeit. Die Halle stand Kopf, Kiel haderte zudem mit dem Pech. Nacheinander scheiterten Pekeler, Zarabec und Wiencek an Johannesson oder am Lemgoer Pfosten. Elison brachte den TBV dann mit 28:27 (57.) in Führung, Steffen Weinhold glich aus, ehe Cederholm mit seinem Tor zum 29:28 die Sensation perfekt macht. Den Ausgleich kurz vor dem Abpfiff vereitelte Johannesson im TBV-Kasten: Der in der zweiten Halbzeit überragende Lemgoer Torhüter entschärfte auch den finalen Wurf von Harald Reinkind, der Rest war blau-weißer Jubel und schwarz-weiße Traurigkeit, Frust und pure Enttäuschung.
REWE Final4 2020, Halbfinale: TBV Lemgo Lippe - THW Kiel: 29:28 (11:18)
TBV Lemgo Lippe: Zecher (n.e.), Johannesson (1.-60., 13 Paraden); Elisson (6/3), Kogut (2), I. Guardiola (2), Simak (1), Carlsbogard (3), Theuerkauf (2), Schagen (6), Timm, Hangstein, Zerbe, G. Guardiola (3), Cederholm (2), Reimann, Bajens (2); Trainer: Kehrmann
THW Kiel: N. Landin (1.-60., 9 Paraden), Quenstedt (1 Siebenmeter, keine Parade); Ehrig (1), Duvnjak (4), Sagosen (3), Reinkind (2), M. Landin, Sunnefeldt, Weinhold (4), Wiencek, Ekberg (6/1), Ciudad (n.e.), Dahmke, Zarabec (2), Horak, Pekeler (6); Trainer: Jicha
Schiedsrichter: Colin Hartmann / Stefan Schneider
Zeitstrafen: TVB: / THW: 2 (Sunnefeldt (33.), Dahmke (38.))
Siebenmeter: TVB: 3/3 / THW: 2/1 (Ekberg an die Latte (51.))
Spielfilm: 1:0, 1:2 (5.), 2:2 (6.), 2:4 (11.), 4:4 (12.), 5:5, 5:9 (16.), 6:11 (19.), 8:12 (23.), 8:14 (25.), 10:15 (27.), 10:17 (29.), 11:18;
14:18 (34.), 14:21 (36.), 16:21 (37.), 18:24 (41.), 22:24 (46.), 23:25 (47.), 24:27 (52.), 28:27 (57.), 29:28 (60.). .
Zuschauer: 1600 (Barclaycard-Arena, Hamburg)
Stimmen zum Spiel:
THW-Trainer Filip Jicha: Glückwunsch an den TBV zum Finaleinzug. Wir haben unsere schlechteste Halbzeit zum schlechtmöglichsten Zeitpunkt abgeliefert, haben in den entscheidenden Momenten trotz gut herausgespielter Chancen den Ball nicht im Tor unterbringen können. Das hat bei uns den Druck erhöht. Hinzu kam, dass wir das Sieben gegen Sechs heute nicht besonders schlau gespielt haben. Lemgo macht dann gefühlt von der Mittellinie das Tor, und bei uns springt der Ball vom Pfosten raus. In unserem Spiel hat jeder Verantwortung zu übernehmen, wenn dann gleich mehrere Spieler wegbrechen, kommt die Crunchtime-Erfahrung nicht zum Tragen. Und das, nachdem wir uns zur Pause einen solchen Vorsprung erarbeitet haben. Die Niederlage ist sehr schmerzhaft, meine Spieler werden aus der heutigen Erfahrung lernen.
TBV-Trainer Florian Kehrmann: Ich muss das Spiel erst einmal sacken lassen. In der ersten Halbzeit hatten wir zuviel Respekt und Angst vor der 3-2-1- und der 5-1- Abwehr der Kieler. Das Sieben gegen Sechs hat uns dann mal geholfen, mal zu Treffern auf das leere Tor geführt. In der Halbzeit war es mir wichtig, die Jungs erst einmal aufzubauen. Ziel war es, Lockerheit reinzubekommen. Der THW Kiel hat dann das kleine bisschen weniger gemacht, was uns zurück ins Spiel lässt. Mit jeder gelungenen Aktion ist dann der Glaube gewachsen, und wir hatten am Ende auch das Spielglück. Beim THW geht der Ball vom Pfosten raus, bei uns geht er rein. Es ist trotzdem unglaublich, was heute passiert ist. Wir können uns dafür auf die Schulter klopfen lassen, aber wir sind noch nicht fertig. Denn Zweiter wollen wir nicht werden.
TBV-Linksaußen Bjarki Mar Elisson: In der ersten Halbzeit waren wir tot, da hat uns Kiel kaputt gemacht. In der Pause haben wir uns versprochen, dass wir weiter Spaß haben wollen. Kiel hat dann nachgelassen, wir haben super gespielt und jeden ihrer Fehler bestraft. Dann entscheiden Kleinigkeiten wie die Pfostentreffer die Partie. Ich bin super stolz auf meine Mannschaft, aber wir haben morgen noch ein Spiel - und wir haben die Chance, etwas Überragendes zu erreichen.
THW-Kapitän Domagoj Duvnjak: Glückwunsch an den TBV, der verdient ins Finale eingezogen ist. Wir waren in der ersten Halbzeit sehr, sehr stark. Vielleicht haben wir nicht daran geglaubt, dass dieser Vorsprung nicht reichen könne. Lemgo ist besser aus der Kabine gekommen, unsere Abwehr hat nicht mehr so gut gestanden, während Lemgo hinten überragend stand. Wir haben dann zuviele Chancen liegengelassen gegen Ende - so bleibt uns nur, dem TBV zu gratulieren. Diese Niederlage tut sehr, sehr weh.