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KN: Auf den Spuren des Professors

Champions League

KN: Auf den Spuren des Professors

Kiel. Der THW Kiel spielt heute (17.30 Uhr MEZ) in der Handball-Champions-League in Brest. Nein, nicht das Brest in Frankreich (das ist nur Partnerstadt von Brest und dahin wäre die Reise einfacher). In Weißrussland. Ist das überhaupt Europa? Für viele Deutsche ist die Republik Belarus ein weißer Fleck auf der Landkarte. Wie tickt Weißrussland? Und welche Rolle spielt Meshkov Brest?

Meshkov Brest ist das Aushängeschild eines Staates an der Peripherie Europas

"Viele Leute wissen gar nicht, wo genau Weißrussland überhaupt liegt", sagt Nina Göpfert. Sie ist gebürtige Weißrussin, stammt aus Brest, dieser 350 000-Einwohner-Stadt im Südwesten der ehemaligen Sowjetrepublik. Seit vier Jahren wohnt die 28-Jährige in Groß-Gerau, 24 000 Einwohner, zwischen Frankfurt, Mainz und Darmstadt. "Das fühlt sich ein bisschen an wie auf dem Dorf", sagt sie lachend. In Brest hat sie Weltgeschichte, Politik und Religionswissenschaften studiert, kam für ihr zweites Studium nach Deutschland. Hier lernte sie ihren Mann kennen, bekam ein Kind, blieb der Liebe wegen. In die alte Heimat fährt sie ein paar Mal im Jahr. "Ich vermisse Weißrussland sehr", sagt sie. "Natürlich gibt es in Deutschland die Möglichkeit, mehr zu verdienen. Aber die Ausbildung und das Leben sind in Weißrussland nicht schlechter."

Das Vermissen beginnt schon beim Klima. "In Weißrussland gibt es vier echte Jahreszeiten - hier ist meistens Herbst", sagt Göpfert. Und dabei verspricht das Rhein-Main-Gebiet zumindest für deutsche Verhältnisse recht schönes Wetter. "In Belarus ist es im Sommer heiß, und im Winter fällt Schnee. Ich habe seit vier Jahren keinen Schnee gesehen." Kein Wunder, dass Eishockey die Sportart Nummer eins ist. "Fußball und Handball teilen sich den zweiten Platz", meint Göpfert. "Die Handball-Begeisterung in Brest steigt von Jahr zu Jahr." Angefangen hat alles 1964, mit Pädagogik-Professor Anatoly Meshkov, der den Handball in Brest etablierte. Die Söhne des 1994 verstorbenen Pioniers führten sein Erbe fort, gründeten 2002 einen professionell geführten Klub und benannten ihn nach ihrem Vater. 15 Jahre später ist der HC Meshkov Brest achtmaliger Landesmeister und ein Anwärter auf das Champions-League-Final-Four. Die Voraussetzungen für Handball in Weißrussland sind ohnehin gut. "Weißrussen sind sehr groß."

Sport wird in Belarus großgeschrieben, das bringt wohl auch das sozialistische Erbe mit sich. Präsident und Autokrat Aljaksandr Lukaschenka, von EU-Politikern als "letzter Diktator Europas" bezeichnet, fördert den Sport mit kostenlosen Angeboten für Kinder und anderen Zuwendungen. Den HC Meshkov muss er nicht fördern, das besorgt der Energieriese Gazprom. Und verteidigte so die Vormachtstellung des Klubs gegen das von Staatsseite aufgepuschte Projekt Dinamo Minsk. Der 2008 in der Zwei-Millionen-Metropole gegründete Klub verabschiedete sich 2014 nach fünf nationalen Meisterschaften in die Pleite. Seitdem ist Brest wieder Handball-Hauptstadt in Weißrussland.

Handball-Hauptstadt des größten Binnenstaates Europas, mehr als halb so groß wie Deutschland, aber nur gut neun Millionen Einwohner. "Wir haben nur ein paar größere Städte, der Rest ist Natur", sagt Göpfert. Wilde Wisente, Braunbären, Luchse und Elche streifen durch die Wälder, die wie kein zweites Areal in Europa von der Verseuchung nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl getroffen wurden. Brest wurde im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört, als die Deutschen die von den Russen annektierte Stadt belagerten und verwüsteten. Die Besatzer ermordeten beinahe jeden vierten Weißrussen, der Schrecken des Krieges ist noch immer präsent. Heute ist Brest eine moderne Großstadt, nach wie vor das "Tor zum Westen", nur ein Steinwurf von Polen und damit der EU entfernt. "Brest ist sehr modern und verändert sich sehr schnell", sagt Göpfert über die Stadt an Bug, Grenzfluss zu Polen, und Muchawez.

Auch wenn Weißrussland laut Göpfert "ein sehr europäisches Land" ist, sind die Unterschiede zu Deutschland zum Teil riesig. Zum Beispiel sehe man kaum Radfahrer auf den Straßen - der "Fahrkünste" der weißrussischen Autofahrer sei Dank. Und: "Die Mentalität ist ganz anders", sagt sie. "Die Menschen in Weißrussland sind offener und gastfreundlicher, als Besucher wird man sofort in eine Familie aufgenommen. Und neben Frieden ist Familie das Wichtigste für uns." Beim HC Meshkov gilt das vor allem für Handballer vom Balkan und Osteuropa, die traditionell ein großes Kontingent stellen. Kapitän Ljubo Vukic zum Beispiel, Kroate, spielt seit fünf Jahren in Brest, Kreisläufer Vid Poteko, Slowene, kam im Sommer aus Celje, Petar Djordjic, Serbe, von der SG Flensburg-Handewitt, der Tscheche Pavel Horak aus Erlangen. Die Handball-Familie verließen unter anderem der lettische Riese Danis Kristopans (Vardar Skopje) und der russische Nationalspieler Pavel Atman (Hannover). Der Kader ist riesig, 28 Spieler sollen die Belastungen aus nationaler Liga, Pokal, Seha-Liga und Champions League auf sich aufteilen. Damit das langfristige Ziel erreicht werden kann: Irgendwann will Meshkov die Champions League gewinnen. Und damit Brest und Weißrussland endgültig auf die europäische Landkarte bringen.

(Von Niklas Schomburg, aus den Kieler Nachrichten vom 04.11.2017, Foto: THW Kiel)