Zebra-Journal: Eine Entscheidung mit Pfiff
Exakt ein halbes Jahrhundert ist das her. Aber Schneider, akkurat gekleidet, blaues Hemd, Manschettenknöpfe an den Ärmeln, hat glücklicherweise einige Erinnerungen aufbewahrt. Zeitungsartikel liegen vor ihm auf dem Tisch: Fotos in Schwarz und Weiß. Das Telegramm eines dänischen Kollegen, der ihm zur Nominierung für dieses Endspiel zwischen Rumänien und Schweden gratuliert. Und natürlich: die Trillerpfeife. Das kleine Ding aus einer Messing-Legierung hat Patina angesetzt, an manchen Stellen ist der goldene Überzug abgeplatzt. Schneider hebt den Zeigefinger und sagt: "Die Entscheidung liegt manchmal im Pfiff." 85 Jahre ist er inzwischen, aber seine Stimme hat an Resolutheit nicht verloren. Damals im Hotelzimmer, bekennt er, wurden die Knie weich. "Die Verantwortung!", ruft Schneider. Er zog sich zurück. Schneider verließ das Hotel und ging spazieren durch Prag, schlenderte über den Wenzelsplatz und über die mittelalterliche Karlsbrücke, die die Moldau quert. Diese selbst verordnete Klausur, erfuhr er später, sorgte für Unruhe. "Die Rumänen haben überall nach mir gesucht", berichtet Schneider. Die Offiziellen um Trainer Ion Kunst-Ghermanescu hatten Angst: dass die schwedischen Funktionäre diesem Schneider irgendwelche unmoralischen Angebote unterbreiten würden. Schneider lächelt, als er davon erzählt. Die Rumänen ahnten Böses. Denn der Trainer der Schweden, Curt Wadmark, entschied zugleich in der Technischen Kommission (TK) über die Schiedsrichteransetzung. Was die Rumänen nicht wussten: Schneider arbeitete als Justizinspektor bei der Staatsanwaltschaft Lübeck. Zuständig für den Strafvollzug. Mit einem Wort: Unbestechlich. Das Endspiel vor 18.000 Fans geriet zu einem Triumphzug. Die Rumänen spielten so schnell wie noch nie, es war ein Aufbruch in die Handballmoderne, und Schneider pfiff souverän und fast fehlerlos. "Er war ein perfekter Unparteiischer. Kein Schiedsrichter der Welt hätte dieses Spiel besser leiten können", sagte Wadmark, obwohl sein Team mit 22:25-Toren verloren hatte. "Schneider (Lübeck) pfiff in absoluter Endspielform", lobte die Deutsche Handballwoche. "Sorgen Sie dafür, dass sich die Handball-Presse über ihre Leistungen an der WM nur in lobenswerter Weise äußern muss", das hatte der TK-Chef Emil Horle den WM-Referees im Februar 1964 in einem Brief aufgetragen. Schneider hatte den Auftrag erledigt. Und wurde zu Hause reich beschenkt. "Schneiders Wohnung in Lübeck hat sich in einen Blumenladen verwandelt", berichtete das Sport-Megaphon. Die Briefe mit Glückwünschen stapelten sich. Diese Leistung sei ohne die Kollegen unmöglich gewesen, sagt Schneider heute, 50 Jahre danach. Sie waren damals ja eine ganze Schiedsrichtermannschaft. Neben Hauptschiedsrichter Schneider beäugten zwei Linienrichter das Seitenaus. Und hinter jeder Torlinie, auf einem 30 Zentimeter hohen Podest thronend, stand ein weiterer, um die Torlinie und den Sechsmeter-Kreis zu überwachen. Im Finale auf der einen Seite stand Lerch, der Mann, der durch die Zimmertür gebrüllt hatte. Auf der anderen Seite der Norweger Knut Nilsson. Das schwarze Quintett von Prag harmonierte prächtig. Dennoch, hinsichtlich des Schiedsrichterwesens lief nicht alles perfekt. "Es war erstaunlich, dass die Technische Kommission während der ganzen Meisterschaft die Schiedsrichter nicht zusammenrief, zwecks kurzer Instruktionen, um einige Regeln einheitlich zu beurteilen", kritisierte der offizielle Bericht. Die Technische Kommission trat nur zusammen, um die Schiedsrichter für die Hauptrunden- und Finalspiele zu nominieren. Dass Schneider in der Vorrunde die Partien Frankreich vs. Schweiz und CSSR vs. Schweiz pfeifen würde, das wusste er schon im November 1963. Vier Monate vor dem Turnier in der Tschechoslowakei. Auch das Experiment mit den Torrichtern wurde nicht als erfolgreich eingestuft. "Das Anbringen der Podeste für die Torrichter wird ebenso bemängelt wie die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Linienrichter", heißt es im Bericht. Die WM 1970 fand ohne Torrichter statt. Dafür pfiffen nun zwei Hauptschiedsrichter. Diese neue Art zu pfeifen wurde bei einem Schiedsrichterlehrgang 1969 in Madrid gelehrt. Auch hierfür galt Schneider als Pionier, obwohl er international mit Hans Rosmanith pfiff und nicht mit seinem Partner aus der Bundesliga. Bei der WM 1970 in Frankreich war das Paar vorgesehen für das Finale. "Als aber die DDR das Endspiel erreichte, kam das nicht mehr in Frage", sagt Schneider. Also klopfte kein Schiedsrichterkollege mehr an das Hotelzimmer. Nur ein Vertreter aus der Sportartikelbranche. "Der wollte uns Adidas-Schuhe geben", sagt Schneider. Sie lehnten ab. "Aber wir haben doch immer Hummel getragen." (Aus dem Zebra-Journal der Kieler Nachrichten vom 07.06.2014)