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KN: Im “Sekundenschlaf”

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KN: Im "Sekundenschlaf"

Kiel. Der THW Kiel durchlitt bei seiner Rückkehr in die Handball-Champions-League ein Wechselbad der Gefühle. Beim 30:30 (14:15) gegen den polnischen Meister PGE Vive Kielce sahen die Zebras aus wie der sichere Sieger und erlebten in der Schlussminute der Partie die Fortsetzung ihres "Sekundenschlaf"-Dramas. Eine Sekunde vor dem Abpfiff traf Alex Dujshebaev mit seinem Ausgleichstreffer mitten ins Kieler Handball-Herz.

30:30 gegen Kielce - Der THW Kiel verspielt in den Schluss-Sekunden Zwei-Tore-Führung

Feierstimmung an der Förde: Der THW Kiel und Andreas Wolff kehren in die Champions League zurück. 8223 in der Sparkassen-Arena wollen die Zebras in der Königsklasse bestaunen, begrüßen Wolff - mittlerweile in Diensten des polnischen Meisters - mit warmem Applaus. In den folgenden 30 Minuten bis zur Pause wird der deutsche Nationalkeeper unter den Augen von Bundestrainer Christian Prokop zum Faktor, pariert sieben Bälle.

Dabei legt der Gastgeber nahezu fehlerfrei los mit viel Tempo über die Außen Rune Dahmke und Ole Rahmel, angetrieben von einem rotzfrechen Spielmacher Miha Zarabec. Für gute Laune bei Andreas Wolff wird dessen Schlagwurf zum 9:8 (17.) nicht sorgen. Die sich anschließende Phase schon eher, in der sich Fehler ins Kieler Spiel einschleichen, die Polen ihrem schnellen Parallelstoß in Person von Regisseur Igor Karacic und Linkshänder Alex Dujshebaev nun auch mehr Druck auf die Kieler Abwehr hinzufügen. Filip Jicha wechselt sein Personal, bringt Steffen Weinhold, Patrick Wiencek, Lukas Nilsson. Ab Mitte der ersten Halbzeit entwickelt sich auch ein Zeitstrafen- Stürmerfoul- und von Kielce initiiertes Theatralikfestival fragwürdiger Güte. Schon jetzt zeichnet sich ab: Das slowenische Schiedsrichtergespann wird die Begegnung mit unzähligen zweifelhaften Entscheidungen nicht entscheiden, aber prägen. "Wir sind alle keine Fans von Schauspieleinlagen. Aber wenn die Schiedsrichter so pfeifen wie heute, müssen wir auch damit anfangen", sagt ein kritischer THW-Kreisläufer Hendrik Pekeler nach dem Abpfiff.

Dazwischen liegen noch 30 hitzige, physische, kurzweilige, aber in der Spielanlage nicht eben filigrane zweite 30 Minuten. Kielce hat beim deutschen Meister gespickt, sucht sein Heil jetzt - wie schon die SG Flensburg-Handewitt am Donnerstag - in einer 5:1-Deckung mit (meistens) Blaz Janc an der Spitze. Jetzt bedarf es einer Extraportion Vehemenz: der von Steffen Weinhold per Doppelschlag zum 18:17 (37.); der von Nikola Bilyk in seiner mit Abstand stärksten Saisonvorstellung bisher. Der Österreicher trifft siebenmal: mit 110-km/h-Schlagwurfpower (19:18/40.), mit Raumgefühl (20:18/42.). Längst erreicht der Testosteron-Pegel Spitzenwerte. Wolff lässt den Ball nach einem Pfiff nicht gleich liegen, Schubser Pekeler, Zeitstrafe Pekeler, Rudelbildung (36.). Rune Dahmke will Dujshebaev im Gegenstoß den Ball wegspitzeln, Dujshebaev stolpert, beide stürzen, Rote Karte gegen Dahmke (45.), der später sportlich fair einordnet: "Ich hatte keine Intention, ihn zu foulen. Aber er sieht mich nicht, es sieht blöd aus, das kann ich verstehen."

Die Zebras machen’s jetzt offensiv in einer 3:2:1-Abwehr. Duvnjaks Intelligenz stiehlt Bälle - Tempogegenstoß, 21:20 (45.). Es geht hin und her und hin und her. Die Partie kostet Kraft auf beiden Seiten. Duvnjak passt den Ball ins Aus (53.), Niclas Ekberg gelingt zuerst der Steal, doch dann findet er im Ex-Kollegen Wolff seinen Meister (55.), Bilyk wirft vorbei (57.). Nichtsdestotrotz arbeitet sich der THW durch das Dickicht aus polnischen Rustikalitäten, Schiedsrichterentscheidungen und schwindender Konzentration. Gelingt dem starken Bilyk mit dem ins Tor "gelegten" Tempogegenstoß gegen Wolff der entscheidende Punch zum 30:28 nach 50 Minuten und sechs Sekunden? Wie soll der THW dieses Spiel jetzt noch aus der Hand geben? Uladzislau Kulesh macht das 30:29, im Gegenzug kommt Miha Zarabec - vielleicht ein paar Sekunden zu früh - frei zum Wurf. Doch die Schulter von Andreas Wolff ist ihm im Weg. Noch fünf Sekunden, noch drei Pässe, der Ball kommt auf der rechten Seite zu Dujshebaev, der ins lange Eck trifft. Aus! Das Spiel ist aus! "Das darf nicht passieren. Es fühlt sich wie eine Niederlage an", sagt Rune Dahmke. Und Andreas Wolff hat gute Laune: "Ich bin sehr, sehr froh."

 (Von Tamo Schwarz und Merle Schaack, aus den Kieler Nachrichten vom 16.09.2019, Foto: Sascha Klahn